§ 128a ZPO und die „Büchse der Pandora“

TEXT: RA Konstantin Kalaitzis

Die Notwendigkeit zu entscheiden reicht weiter als die Möglichkeit zu erkennen.

Damit bringt Immanuel Kant auch das berufliche Dilemma von Richtern weltweit – sofern sie denn das Glück haben, in einem Rechtstaat zu leben – auf den Punkt. Denn Richter sollen Recht und Gesetz auf Sachverhalte anwenden, deren Wahrheit sie aus eigener Wahrnehmung gar nicht beurteilen können. Ihre Urteile sollen zudem nicht nur richtig, sondern möglichst auch gerecht ausfallen. Dabei sind auch Richter nur Menschen, was übrigens auch höchstrichterlich längst geklärt ist. Und weil dies so ist, so der BGH in einem Urteil aus dem Jahre 20081, verfügen auch Richter nur über ein „unvollkommenes Erkenntnisvermögen“.

Von gesetzlichen Navigationshilfen, Leitplanken und Abkürzungen

Da auch Richter leider (oder Gott sei Dank?) nur Menschen sind, können auch sie keine Gedanken lesen. Und auch der „Lügendetektor“ spielt allenfalls in Hollywood eine Rolle, nicht aber in deutschen Gerichtssälen, liegt seine Erfolgsquote doch nur bei rund 50 %.

Um Richtern ihre Aufgabe dennoch zu ermöglichen, gibt der Gesetzgeber ihnen in der ZPO gewisse „Navigationshilfen“ an die Hand. Zudem sollen „Leitplanken“ verhindern, dass Richter vom rechten Weg der Wahrheitsfindung abkommen. Wir nennen diese Leitplanken „Prozessmaxime“ und dies aus gutem Grund, stellen sie doch Prinzipien dar, die in einem Rechtstaat eigentlich nicht zur Disposition stehen sollten.

Dennoch erlaubt es der Gesetzgeber Richtern immer wieder auch „Abkürzungen“ zu nehmen. Er rechtfertigt dies üblicherweise damit, so das Zivilverfahren beschleunigen, straffen, effizienter, transparenter und/oder bürgernäher machen zu wollen, auch, um die Rechtspflege zu entlasten. Da er dazu aber Öffnungen in die Leitplanken schlagen muss, gehen solche Abkürzungen oft auch zu Lasten des Rechtsstaats.

Der Gesetzgeber denkt, der Mensch jedoch lenkt!

In der Regel bezeichnet der Gesetzgeber solche Abkürzungen als „Gesetzesreformen“. Doch weil der Mensch immer die unbekannte Variable dabei ist, gehen Reformen manchmal auch nach hinten los. Dafür gibt es zahlreiche Belege:

Die Einführung der obligatorischen Güteverhandlung etwa hat nicht unbedingt zu mehr Vergleichsabschlüssen geführt, was andererseits aber auch nicht verwundert, waren Richter doch auch zuvor schon gesetzlich gehalten, in jeder Lage des Verfahrens auf eine gütliche Einigung hinzuwirken; stattdessen hat dieser kosmetische Eingriff in die ZPO die Konzentrationsmaxime aufgeweicht. Zwar folgt – nach einem monatelangen, schriftlichen Vorverfahren – der Güteverhandlung immer unmittelbar die streitige Verhandlung; dort aber bleibt es oft bei der Stellung der Anträge und bei der Bestimmung eines Fortsetzungstermines zur Beweisaufnahme. Der Rechtsstreit wird dadurch unnötig in die Länge gezogen und die Wahrheitsfindung dadurch unnötig erschwert. Denn nicht ohne Grund verzichtet die StPO in Fällen hoher Kriminalität bewusst auf eine Berufungsinstanz, und das Gedächtnis eines Zeugen im Strafprozess ist auch nicht schlechter als das eines Zeugen im Zivilprozess.

Auch die Erwartungen in die erhebliche Verschärfung der richterlichen Hinweispflichten nach § 139 ZPO haben sich in der Praxis nicht erfüllt. Zwar wollte man damit den Wegfall der Berufungsinstanz als vollwertige, zweite Tatsacheninstanz etwas kompensieren; tatsächlich aber werden richterliche Hinweise auch heute noch meist erst in der mündlichen Verhandlung erteilt und nicht „so früh wie möglich“ und schon gar nicht ausreichend „aktenkundig gemacht“. Dies ist menschlich auch nachvollziehbar. Denn genauso, wie Rechtsanwälte drückende Fristen meist vor sich herschieben, bereiten sich auch Richter meist erst am Tag vor der mündlichen Verhandlung eingehender auf diese vor.

Ein Paradebeispiel dafür, dass es in der Praxis anders läuft als der Gesetzgeber sich dies gedacht hat, aber ist § 495a ZPO. Denn das „billige Ermessen“ der Amtsrichter in solchen „Bagatellverfahren“ bewirkte, dass sich eine von Amtsgericht zu Amtsgericht unterschiedlich stark ausgeprägte ZPO sui generis entwickelte, die mit dem Bundesgesetz kaum noch etwas gemein hatte. Auch das Risiko, als Beklagter eines Verfahrens nach § 495a ZPO den Rechtsstreit zu verlieren, war in etwa doppelt so hoch wie in Verfahren mit berufungsfähigen Streitwerten. Womöglich lag das an richterlichen Zähllisten. Und gerade weil viele Amtsrichter angesichts der geringen Streitwerte der Verlockung nicht widerstehen konnten, selbst berechtigtes Vorbringen der Parteien nicht oder allenfalls oberflächlich zu beachten, musste schließlich Karlsruhe einschreiten. Denn dort hatten rund 90 % aller anhängigen Verfassungsbeschwerden als Hintergrund § 495a ZPO sowie eine weitere Norm, die der Gesetzgeber sich hatte neu einfallen lassen, um die Rechtspflege zu entlasten: § 128 Abs. 3 ZPO. Der erlaubte es Amtsrichtern bei geringen Streitwerten nämlich, auch nur schriftlich zu verhandeln und zwar von Amts wegen. Dem BVerfG jedoch drohte damit der Knock-out. Es setzte dem Gesetzgeber daher eine Frist für normative Korrekturen. Das Ganze endete schließlich damit, dass § 128 Abs. 3 ZPO wieder ersatzlos gestrichen und mit der „Anhörungsrüge“ ein völlig neuer Rechtsbehelf in die ZPO eingeführt wurde. Und dennoch muss sich das höchste deutsche Gericht auch heute noch vereinzelt mit dem „billigen Ermessen“ manches Amtsrichters auseinandersetzen.

§ 128a ZPO und der Dornröschenschlaf

Bei § 128a ZPO handelt es sich bekanntlich nicht um eine aktuelle Gesetzesreform, sondern um eine Bestimmung, die bereits vor 20 Jahren neu eingeführt wurde. Seitdem jedoch fristete sie ein bescheidenes Dasein, und dies nicht nur deswegen, weil schon die technischen Voraussetzungen bei den Gerichten fehlten, um online verhandeln zu können. Daher sind auch zahlreiche Fragen rund um § 128a ZPO bis heute noch völlig ungeklärt.

Doch Corona sei Dank: Mit den Lockdowns erwachte § 128a ZPO endlich zum Leben, und endlich werden die Gerichte entsprechend technisch ausgestattet, wenngleich es hier noch viel zu tun gibt. Seitdem aber herrscht eine fast schon unheimliche Euphorie. In Zeiten von Spracherkennung, E-Akte und elektronischem Rechtsverkehr wäre es ja auch anachronistisch, die Möglichkeit einer Videoverhandlung nicht zu nutzen, scheint sie für alle Prozessbeteiligten doch nur Vorteile mit sich zu bringen, von sonstigen ökonomischen und ökologischen Aspekten ganz abgesehen.

Dass besonders auch die Anwaltschaft willig in den Chor der digitalen Zeitenwende einzustimmen scheint, ist verständlich, denn auch Rechtsanwälte sind schließlich nur Menschen, und nicht nur das: Als Unternehmer, die zudem noch persönlich haften, müssen Rechtsanwälte zusätzlich darauf achten, dass am Ende des Tages auch die Kasse stimmt. Sonst riskieren sie schlimmstenfalls ihre Zulassung und damit die Ausübung ihres erlernten Berufes. Die Verlockung, bequem vom eigenen Schreibtisch aus zu verhandeln, anstatt die wertvolle Arbeitszeit im Stau oder auf Bahnsteigen zu vergeuden, ist für Rechtsanwälte daher besonders groß. Und dies nicht nur bei Streitwerten, die jedem Kaufmann die Tränen in die Augen treiben würden.

Auch die Richterschaft scheint ihre Bedenken, die sie noch vor wenigen Jahren hatte, ob des nicht nur coronabedingten Aktenrückstaus nun zumindest teilweise über Bord zu werfen. Und auch Richter wollen, was man so hört und liest, künftig gerne vom eigenen Homeoffice aus verhandeln dürfen. Der Gesetzgeber ist also nicht zu beneiden.

Und Mandanten bzw. Zeugen werden sich sowieso lieber vom heimischen Wohnzimmer aus anhören oder förmlich vernehmen lassen wollen, anstatt die nervliche Anspannung in der strengen Umgebung eines Sitzungssaales in Kauf zu nehmen. Alles gut also?

Das Gesamtpaket ist, was zählt!

Keineswegs. Denn das „billige Ermessen“ eines Richters ist – wie dargelegt – relativ. Und in einem Rechtsstaat geht es auch nicht darum, den Organen der Rechtspflege möglichst die Arbeit zu erleichtern, sondern dafür zu sorgen, dass die Justiz als 3. Gewalt im Staate sich ernsthaft mit dem Anliegen ihrer rechtsuchenden Bürger auseinandersetzt. Denn wer von seinem Rechtsanwalt enttäuscht ist, kann diesen notfalls wechseln. Hat der rechtstreue Bürger aber den Eindruck, sein Anliegen werde von den Gerichten in einer Art „Videokonferenz“ abgehandelt, anstatt ernsthaft und fair verhandelt, wird am Schluss der Rechtsstaat selbst verlieren. Dies gilt ausnahmslos, denn auch bei geringsten Streitwerten wird immer auch in Grundrechte der Parteien eingegriffen.

Wie man die Sache auch dreht und wendet und so sehr man sich § 128a ZPO auch schönreden will: Diese Bestimmung rüttelt ohne Wenn und Aber an ehernen Prozessmaximen. Und kein Bildschirm kann die Öffentlichkeit eines Sitzungssaales ersetzen, in Fällen, in denen auch der Gesamteindruck zählt. Der Klamauk, der in den „Gerichtsshows“ privater Fernsehsender geboten wird, tut dabei sein Übriges, wird mit einem Anstrich von Seriosität doch ein völlig falscher Eindruck davon erweckt, wie es in deutschen Sitzungssälen zugeht. In Fällen, in denen der Öffentlichkeit also eine besondere Bedeutung zukommt, eignet sich § 128a ZPO selbst dann nicht, wenn alle Prozessbeteiligten es vorziehen würden, etwa die Mitglieder einer in sich völlig zerstrittenen Wohnungseigentümergemeinschaft lieber digital auf Distanz zu halten.

Ferner kann kein Bildschirm den mündlichen Gedankenaustausch und die Interaktion zwischen Prozessbeteiligten ersetzen, die sich körperlich gegenübersitzen. Der Kampf ums Recht vor Gericht ist eben doch etwas anderes als eine Videokonferenz.

Und vor allem: Kein Bildschirm kann den unmittelbaren Eindruck von einer Auskunftsperson ersetzen, zumal gerade der Zeugenbeweis immer noch die wichtigste, zugleich aber auch die unzuverlässigste „Navigationshilfe“ in der ZPO ist. Dabei geht es auch nicht darum, dass es sich zweifellos leichter in eine Kamera lügt als in das dreidimensionale Antlitz eines Richters, über dem möglicherweise noch ein Kruzifix an der Wand prangt. Denn einen Lügner kann man vergleichsweise leicht entlarven. Es geht vielmehr um den sich irrenden Zeugen, denn gerade das Irren ist bekanntlich sogar sprichwörtlich menschlich.

Der Richter wird´s schon richten!

So lautet die triviale Übersetzung eines römischen Grundsatzes, der als Irrtum immer noch weit verbreitet ist unter den Anwälten. Denn die eingangs erwähnte Feststellung des BGH, wonach auch Richter nur Menschen sind, erfolgte im Zusammenhang mit der Frage, ob Rechtsanwälte auch für Fehler des Gerichts und insbesondere für eine falsche Rechtsanwendung durch Richter haften müssen. Diese Frage wiederum hat der BGH einmal mehr bejaht, seien doch auch Rechtsanwälte zum Richteramt befähigt. Auch der gesetzliche Gebührenanspruch für eine gerichtliche Vertretung wäre – so der BGH – nicht zu rechtfertigen, müssten Rechtsanwälte lediglich Tatsachen bei Gericht vortragen. Zudem gehöre es bereits zum anwaltlichen Selbstverständnis (§ 1 Abs. 3 BORA), die Mandanten auch vor Fehlern der Gerichte zu bewahren.

Da der Grundsatz „Iura novit curia“ für Rechtsanwälte also gerade nicht gilt, tun Rechtsanwälte also auch haftungsrechtlich gut daran, kritisch zu überprüfen, ob und wann es im Interesse des Mandanten wirklich sinnvoll ist, im Einzelfall online zu verhandeln und wann nicht. Denn spätestens, wenn ein entscheidender Zeuge sich vom Besprechungszimmer eines Parteivertreters aus zuschaltet oder man den Eindruck hat, es wäre noch ein Souffleur mit ihm im Zimmer, wird man sich fragen müssen, welchen Beweiswert eine solche Aussage denn noch haben kann und wie man damit in der Berufungsinstanz noch sinnvoll umgehen soll? Dass die meisten Richter und Rechtsanwälte auch immer noch nicht wissen, was eine „Filterfrage“ ist oder warum man sich vor dem sogenannten „Inertia-Effekt“ in Acht nehmen sollte, dass Vernehmungstechnik und Aussagepsychologie also immer noch nicht zum selbstverständlichen Rüstzeug eines Juristen gehören, macht die Sache leider nicht besser.

Im Übrigen üben Rechtsanwälte – wie Richter – einen Beruf von Verfassungsrang aus. So jedenfalls das BVerfG in ständiger Rechtsprechung. Ohne funktionierende Anwaltschaft wiederum, die insbesondere das Vertrauen der Bürger besitzt, funktioniert auch kein Rechtsstaat. Gerade deswegen unterliegen auch Rechtsanwälte ja schließlich einer Disziplinaraufsicht. Dies sollte man sich immer vor Augen halten, wenn es darum geht, eigene Bequemlichkeiten gegen unbequeme Notwendigkeiten abzuwägen.

Es bleibt abschließend zu hoffen, dass der Gesetzgeber bei der anstehenden Schließung der zahlreichen Lücken des § 128a ZPO das notwendige Augenmaß besitzt und sich daran erinnert, dass auch Richter „im Geiste zwar stark, im Fleische jedoch schwach“ sind, wie alle Menschen.

Literaturverzeichnis:

1BGH, Urteil vom 18.12.08 – IX ZR 179/07