Forschungsprojekt Strukturvorgaben

Arbeitserleichterung für den Zivilprozess der Zukunft?
TEXT: MinRat Dr. Hendrik Schultzky, Bayerisches Staatsministerium der Justiz

Das von der Universität Regensburg gemeinsam mit den Justizministerien Bayerns und Niedersachsens durchgeführte Forschungsprojekt „Strukturvorgaben für den Parteivortrag im Zivilprozess“ wird 2023 am Landgericht Landshut erproben, ob und wie der Zivilprozess im digitalen Zeitalter gestaltet werden könnte.

Die Einführung des elektronischen Rechtsverkehrs ist gerade abgeschlossen. Für die Gerichte steht bereits der nächste Meilenstein bei der Digitalisierung der Justiz an: Die elektronische Akte muss und wird bundesweit für den Zivilprozess und zahlreiche weitere Verfahrensarten bis 2026 eingeführt werden. Auch in den Anwaltskanzleien wird – diese Prognose kann guten Gewissens gewagt werden – nach und nach die Papierakte verschwinden. Das Rechtswesen wechselt so Schritt für Schritt aus der früheren Papierwelt in die digitale Welt.

Digitalisierung kann jedoch nicht damit enden, das Arbeitsumfeld zu modernisieren. Sie nötigt auch zur Prüfung, inwieweit die Verfahrensregeln der ZPO und der übrigen Verfahrensordnungen noch zeitgemäß sind und wo Anpassungsbedarf und Optimierungspotentiale bestehen.

Forschungsgegenstand: Strukturierung von Parteivortrag und Verfahren

Hier setzt ein Forschungsprojekt der Universität Regensburg mit den Lehrstühlen für Zivilprozessrecht (Prof. Dr. Althammer) und für Medieninformatik (Prof. Dr. Wolff) an, das gemeinsam mit dem bayerischen Staatsministerium der Justiz und dem niedersächsischen Justizministerium durchgeführt wird. Es untersucht, ob der seit gut einem Jahrhundert geübte Austausch von Schriftsätzen im bekannten Rhythmus Klage, Klageerwiderung, Replik, Duplik usw. im Zivilprozess immer noch die beste Möglichkeit ist, um zur Sache vorzutragen und sich mit den Argumenten des Gegners auseinanderzusetzen. Zu diesem Zweck hat das Forschungsprojekt ein alternatives Vorgehen erarbeitet, das schon im Jahr 2023 praktisch erprobt werden soll.

Ausgangspunkt des Forschungsprojekts ist ein sogenanntes digitales Basisdokument, das den gesamten Parteivortrag in sachlicher und rechtlicher Hinsicht zusammenfasst. In dem einheitlichen Dokument wird der aktuelle Verfahrensstand stets übersichtlich und frei von Wiederholungen abgebildet. Das Basisdokument soll an die Stelle des Austauschs von Schriftsätzen treten und für das Gericht Entscheidungsgrundlage sein. Die Parteivertreter tragen in diesem Modell vor, indem sie das gemeinsame Verfahrensdokument befüllen. Der Parteivortrag wird dabei weder nach Umfang noch nach Inhalt beschränkt noch wird eine bestimmte Anordnung des Parteivortrags vorgegeben. „Struktur“ innerhalb des Basisdokuments soll im Wesentlichen durch drei Ordnungsprinzipien geschaffen werden: Die Notwendigkeit einer Gliederung und die Bezugnahme auf gegnerisches Vorbringen, wo möglich, sind dabei nicht neu. Neu ist lediglich das Gebot, ergänzenden Vortrag an der passenden Stelle in den eigenen Vortrag einzufügen.

Strukturvorgaben für den Parteivortrag werden auch den Verfahrensablauf nicht unberührt lassen.

Strukturvorgaben für den Parteivortrag werden auch den Verfahrensablauf nicht unberührt lassen. Sie sind vielmehr Anlass, auch insoweit eine Modernisierung des Verfahrensrechts in den Blick zu nehmen. Die digitale Aufbereitung des Parteivortrags in einer geordneten Form, wie in dem Basisdokument, wird seine volle Wirkung voraussichtlich nämlich erst dann entfalten können, wenn das Gericht eine aktivere Rolle einnimmt, zielgenauere Hinweise erteilt und die Abschichtung des Prozessstoffes veranlasst. Termine, in denen das Gericht mit den Parteivertretern frühzeitig die weitere Verfahrensgestaltung per Videokonferenz bespricht, sind eine weitere Option. Auch zu diesen Aspekten der Strukturierung will das Projekt Erkenntnisse gewinnen. 

Grau ist alle Theorie

In der rechtspolitischen Diskussion wird zwar fast durchgängig der Befund geteilt, dass der Parteivortrag im Zivilprozess mit zunehmender Komplexität der Verfahren und auch der Prozessdauer unübersichtlicher wird und die Parteivertreter sowie die Gerichte einen erheblichen Aufwand für dessen Aufbereitung betreiben müssen. Dennoch werden Strukturvorgaben, die über die bisherigen Regelungen der ZPO hinausgehen, insbesondere von Teilen der Anwaltschaft kritisch gesehen. Die Bedenken beziehen sich neben den bestehenden (und gerade bei der Einführung des beA leidvoll durchlebten) technischen Herausforderungen auch darauf, dass der Standpunkt der Mandantschaft nicht mehr in dem gebotenen Umfang und der gebotenen Form dargelegt werden könne.

Von Beginn an ist deshalb die gerichtliche und anwaltliche Praxis in das Projekt einbezogen worden. Bereits in einem Vorprojekt wurden die Anforderungen an eine Strukturierung durch Interviews mit Anwältinnen und Anwälten sowie Richterinnen und Richtern erhoben, die die Grundlage für die Gestaltung des digitalen Basisdokuments bilden. Darüber hinaus wurden in Workshops mit Vertretern der Anwaltschaft und der Richterschaft die fachlichen Vorbedingungen für eine Erprobung diskutiert. 

... wurden die Anforderungen an eine Strukturierung durch Interviews mit Anwältinnen und Anwälten sowie Richterinnen und Richtern erhoben.

Ergebnisoffene praktische Erprobung als Lösung

Auch die Einbindung der Sichtweisen aller Stakeholder ändert aber noch nichts daran, dass die angestellten Überlegungen letztlich theoretischer Natur sind. Eine Entscheidung über die Einführung von Strukturvorgaben ist so kaum möglich. Angesichts der Bedeutung der Verfahrensregeln für die Verwirklichung der Rechte der Parteien und letztlich für den Rechtsstaat erscheint vielmehr ein ergebnisoffener Praxistest geboten, der eine empirisch fundierte Empfehlung an den Gesetzgeber begründen kann. Das Forschungsprojekt wird daher im Jahr 2023 in ein „Reallabor“ überführt werden. In einem einjährigen Test an den Landgerichten Landshut und Regensburg sowie zwei weiteren Landgerichten in Niedersachsen sollen Rechtsstreitigkeiten mit dem digitalen Basisdokument von Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälten und dem Gericht geführt werden.

Der Prototyp dient in erster Linie als Hilfsmittel, um eine mögliche Änderung der Zivilprozessordnung zu evaluieren.

Um die Strukturvorgaben greifbar zu machen und den Versuch zu ermöglichen, hat die Universität Regensburg den Prototyp einer Strukturierungssoftware entwickelt, der in den Testverfahren von Gerichts- und Rechtsanwaltsseite genutzt werden soll. Der Prototyp dient in erster Linie als Hilfsmittel, um eine mögliche Änderung der Zivilprozessordnung zu evaluieren. Er soll nicht die spätere technische Umsetzung vorgeben. So ist der Funktionsumfang des Prototyps noch eingeschränkt. Großer Wert wurde allerdings auf eine möglichst selbsterklärende Benutzeroberfläche gelegt, um den Einarbeitungsaufwand gering zu halten. 

Weitere Anforderungen an die Durchführung des Tests stellt das geltende Recht. Unabdingbar ist die Wahrung rechtlichen Gehörs und des fair trial-Grundsatzes. Rechtliche Risiken für die Anwaltschaft, die bei der Erprobung entstehen könnten, sind vor der Gestaltung des Testumfelds sorgsam geprüft worden. Die prozessuale Wirksamkeit der Nutzung des Basisdokuments wird dadurch erreicht, dass die Übertragung unter Einhaltung der Vorgaben des elektronischen Rechtsverkehrs erfolgt. Ein Abbruch des Versuchs mit dem Basisdokument ist jederzeit möglich. Das Verfahren kann dann mit dem Austausch von Schriftsätzen fortgeführt werden. Auch zur Einhaltung des Datenschutzes und der Nutzbarkeit in den verschiedenen IT-Umgebungen der Rechtsanwaltskanzleien wurden Lösungen entwickelt. So wird kein Download einer Software erforderlich sein und alle Daten werden nur lokal gespeichert.

Es braucht ein „Match“ in Landshut

Mit dem Landgericht Landshut liegt eines der Testgerichte im Bezirk der Rechtsanwaltskammer München. Dort werden sich voraussichtlich sieben Richterinnen und Richter an der Erprobung beteiligen und in Verfahren die Nutzung des digitalen Basisdokuments anregen. Die Teilnahme am Test ist für alle Beteiligten freiwillig.

Das Reallabor ist deshalb auf die Unterstützung von Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälten angewiesen. Getestet werden kann nur in Verfahren, in denen ein „Match“ zustande kommt: Sowohl Kläger- als auch Beklagtenvertreter müssen – wie ihre Parteien und das Gericht – damit einverstanden sein, bei dem Versuch mitzuwirken. Das „Match“ muss nicht unbedingt vor Klageerhebung feststehen, sondern kann auch noch nach Eingang der Klage oder zu einem späteren Zeitpunkt geschaffen werden. Zum Erreichen des „Matches“ werden die am Projekt teilnehmenden Richterinnen und Richter gezielt auf Parteivertreter zugehen. Auch Eigeninitiative von testbereiten Anwältinnen und Anwälten ist erwünscht und wird von Seiten des LG Landshut und der Projektgruppe organisatorisch unterstützt.

... Eigeninitiative von testbereiten Anwältinnen und Anwälten ist erwünscht und wird von Seiten des LG Landshut und der Projektgruppe organisatorisch unterstützt.

Die Teilnahme an der Erprobung bedeutet einen gewissen Mehraufwand für alle Beteiligten und auch für die teilnehmenden Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte, wobei versucht wird, diesen möglichst gering zu halten. Die Zahl der Testverfahren soll deshalb nur so hoch sein, wie dies für die anschließende Auswertung und Evaluation erforderlich ist. Damit ist jedes mit Strukturvorgaben geführte Verfahren nicht nur eine Möglichkeit, sich eine eigene Meinung zu dem Vorschlag zu bilden, sondern diese auch in das Projekt einzubringen und selbst die Rechtsentwicklung zu beeinflussen. Zudem ermöglicht der gegenüber der bisherigen Verfahrensführung des Gerichts strukturiertere Ansatz Effizienzgewinne, verbessert Planbarkeit und Vorhersehbarkeit und verkürzt möglicherweise sogar die Verfahrensdauer. Auch Kläger und Beklagte können daher von der Beteiligung ihres Prozessvertreters an dem Versuch profitieren.

Ausblick

Schon während des Reallabors sollen die praktischen Erfahrungen erfasst werden. Der Prototyp des Strukturierungstools soll aufgrund der gewonnenen Erkenntnisse fortlaufend weiter entwickelt werden. Am Ende des Projekts, voraussichtlich im 1. Halbjahr 2024, steht dann eine fundierte Bewertung durch die Projektgruppe, die Leitfaden für ein gesetzgeberisches Tätigwerden sein soll.

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