In Chifeng, einer 4,6-Millionen-Stadt im Südosten der autonomen Region der Inneren Mongolei, fand vom 15. – 22. Juli 2017 der diesjährige Austausch zwischen sechs chinesischen und sechs deutschen Rechtsanwälten im Rahmen des Deutsch-Chinesischen Rechtsstaatsdialogs statt.
Bei seinem Staatsbesuch in der Volksrepublik China im November 1999 schlug Gerhard Schröder eine Vereinbarung über einen Rechtsstaatsaustausch beider Länder vor. Diese Vereinbarung wurde am 30. Juni 2000 unterzeichnet. In der Folge fanden regelmäßig bilaterale Symposien und Arbeitstreffen statt. Die Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (GIZ) führt in Kooperation mit der Robert Bosch Stiftung und der Bundesrechtsanwaltskammer nun seit 2015 einen Rechtsanwaltsaustausch China – Deutschland durch: Jeweils sechs chinesische Rechtsanwälte, die von der All Chinese Lawyers Association (ACLA) ausgewählt werden, und sechs deutsche Kollegen, durch eine Ausschreibung ermittelt und bis auf einen Zuschuss durch die GIZ selbstzahlend, treffen sich zu einem „gemeinsamen Austausch auf Augenhöhe“, um unterschiedliche Themen in einem Symposium zu diskutieren. In diesem Jahr stand das Strafprozessrecht inklusive des Berufsrechts auf dem Programm, erstmals nicht in Peking, sondern „in der Provinz“, in Chifeng.
Von deutscher Seite haben Dr. Annika Dießner (Berlin), Anja Kollmann (München), Petra Makalowski (Essen), Wolfgang Kistler (Freising), Dr. Thomas Kuhn (München) und Jan Bockemühl (Regensburg) die Reise ins „Land der Mitte“ angetreten. Die Delegation wurde von den Rechtsanwältinnen Kei-Lin Ting-Winarto (BRAK) und Vanessa Egert (GIZ) sowie Oliver Radtke (Robert-Bosch-Stiftung) begleitet. Auch Frau Ministerialdirektorin Marie Luise Graf-Schlicker (BMJV) nahm an Teilen des Programms und am abschließenden Symposium teil. Die deutsche Delegation wurde die gesamte Zeit durch die fantastische Dolmetscherin für die chinesische Sprache Nan Wu (Tostedt) begleitet.
Die sechs deutschen Kolleginnen und Kollegen hatten sich in Peking getroffen und die Stadt erkundet, bevor der offizielle Teil des Programms am Abend des 15. Juli am Flughafen von Peking zum gemeinsamen Flug in die Innere Mongolei nach Chifeng begann. Durch Vertreter der ACLA wurde die Delegation am Flughafen von Chifeng mit einer einzigartigen Freundlichkeit begrüßt.
Vor dem Fachprogramm fand ein Trip in das nahegelegene Ulan Buh Grassland auf dem Programm. Gemeinsam mit den chinesischen Kollegen wurde diese – bis zu 1800 Meter hohe – Steppenlandschaft erkundet. Bei einem mongolischen Mittagessen mit traditioneller Tanzeinlage und anschließendem Pferdereiten wurden erste „bilaterale Kontakte“ geknüpft.
Im Wanda Realm Hotel von Chifeng startete am Montag das Fachprogramm. Nach der durch drei Fernsehteams begleiteten offiziellen Eröffnung durch den Vizepräsidenten der ACLA, Herrn Jiang, den stellvertretenden Bürgermeister der Stadt Chifeng, Herrn Dong, den Vorsitzenden der Anwaltsvereinigung der Inneren Mongolei, Herrn Babu, den Projekt Manager der Robert Bosch Stiftung, Herrn Radtke, Frau Rechtsanwältin Ting-Winarto, Geschäftsführerin der BRAK und Dr. Schlichte von der GIZ, begann der erste Workshop. Die Rechtsanwälte Qingsong Zhang (Peking) und Dr. Thomas Kuhn (München) hielten ihre Impulsreferate zum Thema „Der Beruf des Strafverteidigers und aktuelle Entwicklungen in der Strafverteidigerbranche“. Von chinesischer Seite war von besonderem Interesse, dass dort die Anwaltszulassung jährlich „verlängert“ werden muss und bei der Verlängerung auch die „Entwicklung des Anwalts“ Einfluss haben kann! In der anschließenden angeregten Diskussion zeigten sich die chinesischen Teilnehmer sehr gut informiert und interessierten sich insbesondere auch für die in Deutschland existierenden Interessenvertretungen von Strafverteidigern, namentlich den Strafverteidigerorganisationen.
Nachmittags wurde dann der „Chifeng Intermediate People´s Court“ besucht. Die Delegation war die erste ausländische, die dem Gericht einen Besuch abstattete. Dementsprechend groß war auch das Interesse der (lokalen) Medien. Von besonderem Interesse war die hohe technische Ausstattung des Gerichts. An computergestützten Terminals kann sich jeder Bürger mittels seines Personalausweises über den Stand seines Verfahrens informieren. Auch wird jede Hauptverhandlung live im Internet übertragen. In jedem Prozess wird ein Wortprotokoll geführt! Die zusätzliche audiovisuelle Aufzeichnung der gesamten Hauptverhandlung dient der Kontrolle des Protokolls. Im Anschluss an die Besichtigung des großen Sitzungssaales wurde mit den Vertretern der lokalen Justizbehörden angeregt diskutiert.
Am zweiten Tag standen zwei Workshops auf dem Programm. Vormittags führten die Rechtsanwältinnen Petra Makalowski (Essen) und Zheng (Peking) mit ihren Referaten in das Thema „Ablauf und Voraussetzungen des Hauptverfahrens“ ein. Nachdem in China keinerlei Recht auf Akteneinsicht im Ermittlungsverfahren existiert, findet eine wirkliche Auseinandersetzung mit den Tatvorwürfen erst im gerichtlich anhängigen Verfahren statt, dem nicht selten eine in Monaten bemessene Untersuchungshaft vorausgeht. In einem sog. Vorgespräch werden die Weichen für die spätere Hauptverhandlung gestellt. In diesem Vorgespräch ist auch die Verteidigung gehalten, ihre Beweismittel darzulegen.
Nachmittags hielten Rechtsanwältin Liu (Peking) und Rechtsanwältin Dr. Dießner (Berlin) ihre Referate zu dem Thema „Taktik des Strafverteidigers in den Verfahrensabschnitten“. Frau Liu offenbarte hier die Bemühungen der Verteidigung, die fehlende Aktenkenntnis während des Ermittlungsverfahrens durch anderweitige „taktische Raffinessen“ zu kompensieren, während Dr. Annika Dießner die unabdingbare schnellstmögliche Akteneinsicht und den unüberwachten Verteidigerverkehr hervorhob.
Das Thema „Verständigung im Strafverfahren“ stand am dritten Tag im Fokus. Rechtsanwalt Prof. Dr. Jan Bockemühl (Regensburg) und Rechtsanwalt Weihao Hu (Innere Mongolei) widmeten sich dem Thema aus deutscher und chinesischer Sicht. Bockemühl stellte zunächst die Regelungen des Verständigungsgesetzes vor und führte dann zu den Problemen über. Insbesondere die Möglichkeit einer „Konsensfalle“ war der chinesischen Seite bisher unbekannt. Kollege Hu zeigte auf, dass es eine gesetzliche Kodifikation des „Deals“ in China nicht gibt, aber eine Regelung einer Verständigung überwiegend als „Chance der Verteidigung“ begriffen werde. Eine emotionale Diskussion entwickelte sich, bei der auch die kontroversen Standpunkte in Deutschland offensichtlich wurden.
Am vierten Tag stand „Die Rolle des Opfers im Strafprozess“ auf dem Programm. Rechtsanwalt Shuai Zhu (Shanxi) und Rechtsanwalt Wolfgang Kistler (Freising) boten jeweils Einblicke in die Rechte von Geschädigten im Strafprozess. In der anschließenden Diskussion wurde deutlich, dass die Rolle des Opfers im Strafverfahren jeweils auch den Gesellschaftswandel wiederspiegelt und in keinem Fall der Beschuldigte aus den Augen verloren werden darf. Anschließend wurde eine „Education base of juvenile law“ besucht. Der ursprünglich geplante Besuch einer Jugendjustizvollzugsanstalt war leider abgesagt worden. So wurde eine eher skurril anmutende Erziehungseinrichtung für Schüler, in der die Auswirkungen von Kriminalität auf Jugendliche überdeutlich bzw. verzerrt dargestellt wurden, besichtigt.
Der fünfte und letzte Tag der Workshops war dem Thema „Jugendstrafrecht“ gewidmet. Rechtsanwältin Anja Kollmann (München) und Rechtsanwältin Xiaomei Lu (Chifeng) zeigten die jeweiligen Besonderheiten des Jugendstrafrechts auf. Von chinesischer Seite wurde betont, dass bei Jugendlichen die Todesstrafe nicht verhängt werden darf. Nachmittags wurde dann die „Criminal Law Firm Dachuan“ in Chifeng besichtigt. Eine Kanzlei, die 2011 als beste Kanzlei Chinas ausgezeichnet wurde, und deren Rechtsanwälte, soweit sie der Partei angehörten, als Parteiuntergliederung vielfältige Ehrungen erfahren hatten.
Am Samstag wurde dann der Austausch mit einem Abschlusssymposium beendet. Das Symposium stand für Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte, aber auch Vertreter der Justiz- und Verwaltung offen. Teilweise reisten die Teilnehmer dafür über 750 km zum Veranstaltungsort an. Im vollständig besetzten Konferenzraum fanden vormittags Grundsatzreferate unter der Moderation von Rechtsanwalt Qingsong Zhang (Peking) statt. RA Prof. Dr. Jan Bockemühl referierte über „Defizite im deutschen Strafprozess“. Anschließend hielten dann die beiden Strafverteidigerinnen Ling Liu und Zheng Chang (beide Peking) Referate zu verschiedenen Bereichen der Verteidigung in China, u.a. zur Geltendmachung von Beweisverwertungsverboten.
Nach dem gemeinsamen Mittagessen fand anschließend unter der Moderation von Frau Ministerialdirektorin Graf-Schlicker vom BMJV eine Abschlussdiskussion statt. Auf dem Podium diskutierten jeweils zwei Teilnehmer ihre Eindrücke aus den Workshops. Für China waren dies Qingsong Zhang und Shuai Zhu sowie für Deutschland Dr. Annika Dießner und Dr. Thomas Kuhn.
Etwas wehmütig gingen die Wege anschließend auseinander. In der Woche hatte nicht nur ein sehr intensiver und vor allem offener Dialog stattgefunden, sondern es hatte sich so etwas wie Freundschaft unter den Teilnehmern entwickelt. Die Reise in die Innere Mongolei hat sich für alle Seiten mehr als gelohnt.
Bildquellen: Rechtsanwalt Prof. Dr. Jan Bockemühl