Dass sie Anwältin wurde, lag gewissermaßen in der Natur der Sache: Schon als Gymnasiastin engagierte sich Nazan Simsek sozial, organisierte Demonstrationen, interessierte sich für Politik, Geschichte und die unterschiedlichsten Rechtssysteme. Sie wollte etwas bewegen. Und auch ihr Vater, ein vereidigter Dolmetscher, trug früh zu ihrem Berufswunsch bei. Er berichtete von Gerichtsverhandlungen, erzählte von unzähligen Möglichkeiten, Menschen zu unterstützen, ihnen zu helfen. Für Nazan Simsek, eine Deutsche mit türkischen Wurzeln, war das beeindruckend – und prägend zugleich, erzählt sie im Gespräch. „Recht früh war mir klar, dass ich Jura studieren will.“
Start mit eigener Kanzlei
2006 machte sich die heute 41-Jährige mit einer eigenen Kanzlei im Augsburger Stadtteil Lechhausen selbständig. Sie hatte in Augsburg studiert, und blieb auch nach dem zweiten Staatsexamen dort. Nach einer kurzen Anstellung in der bayerischen Landeshauptstadt zog es sie zurück in ihre Heimatstadt. „Die Entscheidung ist mir nicht schwer gefallen. Ich bin wegen meines Mannes geblieben. Und auch der Job in einer Münchner Wirtschaftskanzlei füllte mich nicht aus. Mir fehlte der Kontakt zu Menschen“, sagt sie und lächelt. Vor fast genau elf Jahren war das, und Nazan Simsek war damals die erste türkischsprachige Anwältin in Augsburg. „Ich habe bei null angefangen und musste erst einmal Klienten gewinnen“, erinnert sie sich. Am Anfang sei sie recht verloren gewesen, der Zulauf war gering. Das änderte sich schnell, nachdem sie ihre erste Mandantin vertreten hatte. „Es ging um einen schlimmen Fall häuslicher Gewalt. Und da ich die einzige türkischsprachige Anwältin war, hat sich das sehr schnell herumgesprochen. Es hat sozusagen eine Kettenreaktion ausgelöst“, sagt die Fachanwältin für Familienrecht.
In ihrer sozialen Umgebung brauchen sie bei einer Trennung ein religiöses Attest. Was oft verweigert wird. Der Druck zu schweigen ist hoch. Viele Frauen haben auch Angst, dass man ihnen die Kinder wegnimmt, wenn sie sich zum Beispiel ans Jugendamt wenden. Und Mädchen, die ein „zu westliches Leben“ führen, werden oft in die Türkei geschickt und zwangsverheiratet. Vorfälle und Probleme werden dann häufig ohne das Eingreifen des deutschen Rechtssystems gelöst, durch Friedensrichter beispielsweise.
„Die Politik in Bayern hat sich recht früh mit diesem Thema beschäftigt.“
Noch schneller sei sie dann zum Thema Paralleljustiz gekommen. „Die Politik in Bayern hat sich recht früh mit diesem Thema beschäftigt“, sagt Nazan Simsek. Und mit dem Zustrom von Zuwanderern aus fremden Kulturen wird das Thema immer brisanter: Hier herrscht besonders große Unkenntnis über die rechtlichen Grundlagen in Deutschland. Viele Frauen wissen nicht, dass sie bei einer nach islamischem Recht geschlossenen Ehe keine staatliche Unterstützung im Fall einer Scheidung durchsetzen können.
Engagement rund ums Thema Paralleljustiz
„Es gibt in Deutschland viele Strukturen, die unserer Rechtsordnung widersprechen. Wenn Sie mich fragen, ob wir eine Paralleljustiz haben, muss ich ganz klar mit einem Ja antworten“, sagt Simsek. Durch ihre Tätigkeit als Fachanwältin für Familienrecht habe sie unzählige solcher Fälle bearbeitet. „Ich kann gar nicht mehr zählen, wie viele genau.“ Sie habe sich dann immer gefragt, was sie tun könne, um zu helfen. Simsek engagiert sich deshalb nicht nur als Rechtsanwältin für die betroffenen Familien, sie ist zudem Verfahrensbeistand für Kinder, hält Vorträge, nimmt an Podiumsdiskussionen teil, engagiert sich im Vorstand des Deutschen Kinderschutzbundes in Augsburg und wurde als Sachverständige vor den Rechtsausschuss des Deutschen Bundestages zum Thema Kinderehen berufen. „Am Ende sind immer die Kinder die Leidtragenden. Da ich selbst Mutter bin, will und muss ich da etwas tun.“ Zugute kommen ihr bei ihrem Engagement stets auch interkulturelle Kompetenzen und Sprachkenntnisse. „So habe ich sofort einen guten Draht zu den Mandanten. Das schafft Vertrauen.“
Der Moment, in dem Nazan Simsek die Medaille für Verdienste um die Bayerische Justiz in München verliehen bekommt, ist für sie ein ganz besonderer. Einerseits eine Anerkennung für ihre Arbeit und das Engagement rund um das Thema Paralleljustiz. Andererseits aber auch ein Moment innezuhalten, zu reflektieren, was einem der eigene Beruf bedeutet, stolz darauf zu sein, was man geschafft hat.
„Ich stelle mir immer die Frage: Was können wir als Anwälte tun?“
„Ich war sehr gerührt“, sagt Nazan Simsek. „Noch dazu hat die Preisverleihung in dem Saal stattgefunden, in dem im Dritten Reich der Prozess gegen die Geschwister Scholl stattgefunden hatte. Da sind mir viele Gedanken durch den Kopf gegangen.“ Ausgezeichnet wurde Simsek von Professor Dr. Winfried Bausback, Bayerischer Staatsminister der Justiz. Er würdigte in seiner Laudatio unter anderem ihre Verdienste bei der Bekämpfung der sogenannten Paralleljustiz. „Ihre interkulturellen Erfahrungen aus der Betreuung von Mandanten mit Migrationshintergrund stellen Sie in den Dienst der Justiz – besonders beim Umgang mit der sogenannten Paralleljustiz, die im Verborgenen agiert und unsere Rechtsordnung ignoriert“, fand Bausback treffende Worte.
Bei der Antwort auf die Frage, was sie antreibe, muss die 41-Jährige nicht lange überlegen: „Wenn es um die Kinder geht, müssen wir uns einfach engagieren. Und auch das Thema Integration ist ein wichtiges. Die kulturelle Vielfalt ist eine Bereicherung, aber sie birgt auch Herausforderungen.“ Dazu sei sie eine leidenschaftliche Arbeiterin. „Ich bin schon ein kleiner Workaholic“, sagt Nazan Simsek und lacht. Es gebe so vieles, worum man sich kümmern müsse, wo man sich engagieren könne. „Ich stelle mir immer die Frage: Was können wir als Anwälte tun?“, erklärt sie. Es sei aber nicht immer leicht, Familie und Karriere unter einen Hut zu bringen. Dennoch bleibe genügend Zeit für den Ehemann und die beiden Kinder – die fünfjährige Tochter und den neunjährigen Sohn. „Neulich beim Abendessen hat mein Mann mich angeschaut und gesagt: ,Du überlegst Dir doch schon wieder etwas‘.“ Da könnte er wohl recht haben, sagt Nazan Simsek.
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