Professor Dr. Rudolf von Gneist wusste, was er wollte. Als Abgeordneter der Nationalliberalen Partei im Preußischen Abgeordnetenhaus und als Professor für Staats- und Verwaltungsrecht, geprägt vom Geist der März-Revolution 1848, schwebte ihm nichts Geringeres vor als die vollständige Neuordnung des anwaltlichen Berufsrechts. „Nachdem zwei Menschenalter hindurch die Advocatur lediglich nach den Ideen beamteter Justizpersonen gestaltet worden, muss endlich einmal daran erinnert werden, dass die Bevölkerung nicht dazu vorhanden ist, um eine Anzahl ‘Justizbediente‘ mit hinreichendem Auskommen anzustellen“, erklärte der Rechtswissenschaftler, „sondern dass die Rechtsanwaltschaft dazu bestimmt ist, den höchsten Interessen und Bedürfnissen des Volkes zu dienen, und dass die preussische Rechtsanwaltschaft in der heutigen beschränkten Stellung ausser Stande ist, den berechtigten Ansprüchen zu genügen.“
Rudolf von Gneist war es ein Dorn im Auge, dass Rechtsanwälte zu seiner Zeit einen beamtenähnlichen Status genossen. Dieser Status widersprach seiner Ansicht nach den Aufgaben und Ansprüchen, die ein Rechtsanwalt zu erfüllen hatte. Er postulierte vier Forderungen: Rechtsanwälte sollten frei von der Ernennung und Anstellung vom Staat sein. Sie sollten nicht in eine beamtenähnliche Stellung gezwungen werden. Sie sollten frei von staatlicher Disziplinargewalt sein. Und sie sollten frei von einer richterlichen Honorarkontrolle sein. Das schrieb er schon 1867 in seinem Buch „Die Freie Advocatur“ nieder und legte damit eine der wichtigsten Grundlagen für das anwaltliche Berufsrecht unserer Zeit.
„Der Beruf des Anwalts ist im Wandel, wahrscheinlich so stark wie noch nie zuvor in seiner Geschichte.“
Seine Ideen wurden in der Rechtsanwaltsordnung (RAO) vom 1. Oktober 1878 umgesetzt. Die neue RAO definierte ein einheitliches Berufsbild des Rechtsanwalts und hob die ursprüngliche Trennung in Prokuratur (Prozessvertretung) und Advokatur (Beratung von Mandanten und sonstige rechtliche Betreuung) auf. Als eines der wichtigsten Elemente dieser Reform jedoch gilt auch heute noch die anwaltliche Selbstverwaltung.
Alle Rechtsanwälte innerhalb eines Oberlandesgerichtsbezirks sollten sich in einer Anwaltskammer zusammenfinden. Über diese Kammer sollte die Aufsicht über die Rechtsanwälte ausgeübt werden und etwaige ehrengerichtliche Strafgewalt. Im Zuge dieser Reform des Rechtswesens wurde 1879 die Rechtsanwaltskammer München gegründet.
Die Welt selbst steht vor großen Umbrüchen
Der Beruf des Anwalts ist im Wandel, wahrscheinlich so stark wie noch nie zuvor in seiner Geschichte. Denn der Druck auf Anwälte wächst. Auf der einen Seite nimmt die Konkurrenzsituation zu und treten neue Dienstleister mit neuen digitalen Angeboten auf den Markt. Auf der anderen Seite steht die Welt selbst vor großen Umbrüchen. Die Bedrohung durch terroristische Akte stellt den Rechtsstaat vor neue Herausforderungen und zwingt ihn, sich neu zu positionieren. Die Rechtsanwaltskammern haben die wichtige Funktion, in diesen Zeiten die Freiheit des anwaltlichen Berufs zu schützen.
„Die Selbstverwaltung ist wichtig, weil sie die Freiheit gegenüber dem Staat sichert und damit eine wichtige Voraussetzung für ein rechtsstaatliches Justizsystem schafft“, sagt Prof. Dr. Reinhard Singer, geschäftsführender Direktor des Instituts für Anwaltsrecht der Humboldt-Universität zu Berlin. „Wie könnte ein Mandant darauf vertrauen, dass ihm sein Anwalt auch wirklich zu seinem Recht verhilft, wenn er staatlicher Aufsicht unterläge?“
Zu den wichtigsten Aufgaben der RAK München gehören heute die Berufsaufsicht, die Zulassung und der Widerruf der Zulassung. Die Kammer prüft, ob der Rechtsanwalt die für ihn geltenden berufsrechtlichen Vorschriften einhält, die sich aus der Bundesrechtsanwaltsordnung (BRAO) und der Berufsordnung für Rechtsanwälte (BORA) ergeben. Bei gebührenrechtlichen Fragestellungen kann die RAK Gutachten erstellen. Gerade hier spielt die große Nähe zur Praxis eine wichtige Rolle, insbesondere die entsprechende Sachkunde zum betriebswirtschaftlichen Aufbau einer Rechtsanwaltskanzlei. Die RAK berät die Mitglieder und schlichtet bei Streitigkeiten unter den Mitgliedern oder zwischen Mitgliedern und Mandanten. Die Kammer wirkt zudem bei der Ausbildung und Prüfung von Rechtsanwalts- und Notarfachangestellten mit. Sie erteilt die Fachanwaltszulassung und prüft die entsprechenden Fortbildungen.
Anwaltliche Selbstverwaltung lebt vom ehrenamtlichen Engagement. Dieses Engagement ist der Kern der unabhängigen Aufgabenwahrnehmung der Kammer. Dabei wirken die Mitglieder der Kammer direkt oder durch ihre Repräsentanten mit. Sie engagieren sich im Kammervorstand, in den Prüfungsausschüssen der Fachanwaltschaften, bei der Juristenausbildung, in der Satzungsversammlung und in den Ausschüssen der Bundesrechtsanwaltskammer. Dieses Ehrenamt führt zu schlanken und wirtschaftlichen Prozessen und schafft bei Entscheidungen die nötige fachliche Nähe.
„Die Selbstverwaltung ist wichtig, weil sie die Freiheit gegenüber dem Staat sichert und damit eine wichtige Voraussetzung für ein rechtsstaatliches Justizsystem schafft.“
Auf dem Weg zu unserem heutigen Berufsrecht war die RAO von 1878 ein Meilenstein. „Man muss die Entwicklung in ihrem historischen Kontext sehen“, sagt Dr. Dirk Michel, Geschäftsführer des Europäischen Zentrums für Freie Berufe in Köln. „In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts hatten es Rechtsanwälte mit zwei Problematiken zu tun: zum einen der Zulassung als Rechtsanwalt durch ein Gericht, das in der damaligen Zeit als nicht gänzlich unabhängig gelten konnte, und zum anderen dem sogenannten Numerus clausus, einer Mengenbegrenzung, nach der nur eine bestimmte Zahl an Rechtsanwälten überhaupt zugelassen wurde.“ Kurz gefasst: Die Gerichte konnten sich aussuchen, wer ihnen politisch genehm war, und diejenigen, die anderer Meinung waren, aussortieren. Die RAO von 1878 räumte mit diesen Missständen auf.
Ein Blick in andere Länder
Das Modell der anwaltlichen Selbstverwaltung war zu diesem Zeitpunkt nicht einzigartig. Deutschland war damit sogar etwas hintendran. Schon 1274 wurden in Frankreich die ersten „Ordre des Avocats“ gegründet und berufsrechtliche Prinzipien festgelegt. Seit 1520 gab es ein anwaltliches Register in Holland seit über 400 Jahren Kammern in Spanien. Ziel war es immer, die staatliche Einflussnahme zurückzudrängen und eigene berufsbezogene Institutionen zu stärken. Denn wie sähe die Alternative aus?
Autoritäre Staaten sehen in der Selbstverwaltung der Anwaltschaft ein Hindernis, ihre eigenen Ziele zu verfolgen. Der Rechtsanwalt wird als „Rechtsdiener“ betrachtet, der nicht mehr dem Mandanten, sondern dem Recht selbst verpflichtet ist. In dieses Bild passt die anwaltliche Selbstverwaltung nicht mehr hinein. Zwischen 1933 und 1945 fand die Selbstverwaltung in Deutschland deshalb auch ihr vorläufiges Ende. Richter, Staatsanwälte und Verteidiger müssten „Kameraden einer Rechtsfront, gemeinsame Kämpfer um die Erhaltung des Rechts sein“, hieß es in einem damals populären Lehrwerk. „Die Gleichschaltung ihrer Aufgaben muss ihre praktische Zusammenarbeit und Kameradschaft verbürgen.“
Um den Rechtsstaat unter ihre Kontrolle zu bringen, mussten die Nationalsozialisten auch die Kammern unter ihre Kontrolle bringen. Die erst 1933 gegründete Dachorganisation der Rechtsanwaltskammern in den Ländern, die Reichsrechtsanwaltskammer (RRAK), wurde dem Reichsjustizministerium unterstellt, das auch den Kammerpräsidenten berief. Die Kammern verloren ihre Selbständigkeit. Das Führerprinzip ersetzte die Selbstverwaltung. Im Februar 1936 trat die neue Reichsrechtsanwaltsordnung (RRAO) in Kraft. Der einstmals freie Zugang zum Markt wurde reglementiert und einem Bedarfsmaßstab angepasst. Es gab keinen Anspruch auf Zulassung mehr. Vielmehr fand eine willkürliche Auswahl statt, die sich nicht an Examensnoten orientierte, sondern am Nachweis von nationalsozialistischem Denken – das Ende der Idee einer freien Advokatur.
Neuordnung nach dem Zweiten Weltkrieg
Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges wurde die RRAO außer Kraft gesetzt. Bis es wieder eine einheitliche Rechtsanwaltsordnung gab, sollte es viele Jahre dauern. Erst 1959 ist die heutige Bundesrechtsanwaltsordnung (BRAO) vom Bundestag verabschiedet worden. Heute hat jeder zum Richteramt Befähigte wieder einen Anspruch auf Zulassung. Der Rechtsanwaltsberuf ist nach § 2 BRAO ein freier Beruf und kein Gewerbe und der Rechtsanwalt nach § 1 BRAO ein „unabhängiges Organ der Rechtspflege“. Weder ist er durch eine beamtenähnliche Treuepflicht gebunden, noch unterliegt er der staatlichen Kontrolle. Stattdessen wird ihm über den Titel als Organ der Rechtspflege neues Vertrauen entgegengebracht.
Bis 1987 konnte die BRAK über das eigene Standesrecht entscheiden, bis das Bundesverfassungsgericht in den Bastille-Beschlüssen die Grundlage für ein komplett neues Berufsrecht schuf. Zwei Rechtsanwälte wurden aufgrund von standesrechtlichen Regelungen durch die zuständigen Rechtsanwaltskammern gerügt. Diese Rügen wurden auf Basis der damals geltenden Standesrichtlinien erteilt. Für das Bundesverfassungsgericht reichte das Standesrecht als Grundlage für eine Rüge allerdings nicht aus. Für die anwaltliche Berufsausübung fehle eine gemäß Artikel 12 Abs. 1 Satz 2 GG erforderliche gesetzliche Grundlage.
„Neue Anbieter mit digitalen Lösungen drängen auf den Markt, alte Geschäftsfelder fallen weg.“
Die anwaltliche Tätigkeit musste wieder neu geregelt werden: Aus dem Standesrecht wurde das Berufsrecht. 1994 wurde die BRAO reformiert und eine demokratisch gewählte Satzungsversammlung der Anwaltschaft mit der Neugestaltung des Berufsrechts im Rahmen der vom Gesetzgeber festgelegten Grenzen betraut. „Die BRAK hatte bis dahin in ihren Richtlinien geregelt, was sie als regelungsbedürftig erachtet hatte“, erklärt Dr. Dirk Michel.
„Problematisch war für das Verfassungsgericht, dass es keine gesetzliche Grundlage gab, in der klar definiert wurde, was die BRAK tatsächlich regeln durfte und was nicht. Diese Grundlage wurde durch § 59b BRAO geschaffen.“
Die berufsrechtlichen Regeln und ihre Auslegung haben sich seitdem stark gewandelt. Beispielhaft ist etwa die Aufhebung des Werbeverbots, aus dem eine Werbefreiheit mit Ausnahmen wurde. Der Rechtsanwalt wandelt sich immer mehr zu einem Dienstleister, der sich auf dem Markt frei bewegen kann und sich den Gesetzen dieses Marktes stellen muss. Inzwischen sind interprofessionelle Kanzleien genauso möglich, wie auch Unternehmensjuristen als Syndikusrechtsanwalt zugelassen werden können. Neue Anbieter mit digitalen Lösungen drängen auf den Markt, alte Geschäftsfelder fallen weg. Die Kammern stehen vor großen Herausforderungen.
Wie stellt sich die RAK München für die Zukunft auf?
Die Anwaltschaft ist bunter geworden. Während Rudolf von Gneist der Einheitsanwalt vorschwebte, der seine Kanzleiräume gegenüber dem Gericht hatte, sind heute die Lebenswelten von Rechtsanwälten immer weniger zu vergleichen. Auf der einen Seite steht das Modell etwa der Anwälte der Großkanzleien, die nur Unternehmensmandate übernehmen und viele Millionen Euro Umsatz machen. Auf der anderen Seite stehen Teilzeitmodelle, in denen Rechtsanwälte ihrer Tätigkeit nur an wenigen Tagen für wenige Stunden nachgehen. Sie alle müssen sich in der RAK wiederfinden. Dabei ist derzeit eine wichtige Frage, wie die RAK diese bunte Gruppierung repräsentieren kann – immerhin sind aktuell mehr als 21.000 Anwälte in der Kammer München organisiert. Hier eine höhere Repräsentation und auch Kommunikation anzuregen ist eine wichtige Aufgabe. Und auch die RAK muss den Weg der Digitalisierung gehen und die eigene Verwaltung und Strukturen modernisieren.
Ist das alte System für die Zukunft gerüstet? Es steht zumindest immer wieder in der Kritik, etwa mit dem Argument, „dass sich Anwälte gegenseitig nicht wehtäten“. Dieses Argument lässt Prof. Dr. Reinhard Singer vom Institut für Anwaltsrecht der Humboldt-Universität in Berlin jedoch nicht gelten. „Für diese Tendenz gibt es meiner Ansicht nach keine Anhaltspunkte.“ Er warnt davor, bewährte Institutionen in Frage zu stellen, solange nicht klar erwiesen sei, dass es systembedingte Missstände gebe. Für Dr. Dirk Michel liegen die Vorzüge vor allem in der Sachnähe: „Wer selbst diesen Beruf ausübt, hat auch ein besseres Gespür für dessen Besonderheiten.“ Zudem hätten Rechtsanwaltskammern gerade durch ihre Pflichtmitgliedschaft ein viel größeres Gewicht, etwa wenn es um gesetzliche Vorhaben gehe, die den Berufsstand beträfen. Es sei derzeit keine Alternative denkbar, die bei Kosten, Effektivität und Berufsnähe eher überzeugte.
150 Jahre, nachdem Rudolf von Gneists Buch „Die Freiheit der Advocatur“ erschienen ist, haben alle Mitgliedstaaten der EU Rechtsanwaltskammern. Das Kammersystem hat sich als ein wichtiger Bestandteil demokratischer Rechtsordnungen etabliert.
Bild oben: Jirsak/iStock/Thinkstock