Herr Schäfer, welche aktuellen Herausforderungen sehen Sie derzeit für die Anwaltschaft?
Die drängendsten Fragestellungen ergeben sich derzeit durch die Digitalisierung. Bereits ab 2018 müssen Rechtsanwälte über das besondere elektronische Anwaltspostfach erreichbar sein, ab 2022 müssen Anwälte es im Austausch mit den Gerichten auch aktiv nutzen. Damit bekommt das Thema noch einmal einen zusätzlichen Schub. Die Arbeit des Anwalts wird sich in den nächsten Jahren deutlich ändern.
In welcher Weise?
Zuerst einmal ändert sich die Infrastruktur, mit der gearbeitet wird, und das hat natürlich auch Auswirkungen auf die Kanzleiorganisation.
Aber es geht auch um die Inhalte unserer Beratungstätigkeit. Im Augenblick spricht alles von der Industrie 4.0. Bald können wir von Legal Tech 4.0 sprechen. Schon bald werden Computer in der Lage sein, bestimmte anwaltliche Tätigkeiten genauso gut wie ein Anwalt zu erledigen – oder sogar besser.
Wie soll das gehen?
Computer sind mit Sicherheit besser in der Lage, 100.000 Gerichtsentscheidungen auszuwerten und zu analysieren als ein Rechtsanwalt. Der käme bei 200 Entscheidungen wohl schon an seine Grenzen. Allein aus der Masse an Daten sind aber viel fundiertere Einschätzungen möglich.
Wo stehen wir in dieser Entwicklung?
Noch ganz am Anfang. Es ist schon jetzt klar, dass es Chancen geben wird, aber auch Risiken. Den Anwälten wird ein Teil ihres Geschäfts verlorengehen. Schon jetzt gibt es Computermodelle, die ein Mandantengespräch simulieren können. In Fragen und Antworten wird das Problem des Mandanten strukturiert, er äußert seine Interessen. Und das Programm bietet Antworten. Am Ende dieses Gesprächs kann dann zum Beispiel ein fertiger Mietvertrag zum Ausdrucken stehen. Oder nehmen Sie die Schadensbearbeitung bei Verkehrsunfällen. Mit der richtigen Software können diese schneller bearbeitet werden: Die Versicherungen sehen schnell, ob sie einen Schaden lieber zügig regulieren, bevor der Anspruchsteller einen Anwalt einschaltet. Das sind Beispiele für Arbeitsfelder, die Anwälte bis jetzt souverän beherrschten und die möglicherweise bald wegbrechen.
So, wie Sie es schildern, scheint es, als gebe es eigentlich nur Risiken.
Für den Anwalt stellt sich jetzt die Frage, welchen besonderen Gewinn seine Arbeit seinem Mandanten bringt. Welche besondere Qualität hat seine Dienstleistung? Man muss ja sehen: Wir sind Rechtsberater. Unsere Mandanten kommen mit einem Problem zu uns. Wenn sie sehen, dass ein anderer das Problem auch lösen kann, dann gehen sie möglicherweise zu ihm.
Es gibt inzwischen zahlreiche Anbieter auf dem Markt, die sich die neuen Möglichkeiten der Digitalisierung zunutze machen – sei es beim Thema Fluggastentschädigung, Mietnebenkosten oder Hartz-IV-Bescheide. Diese Dienste positionieren sich mit halb- bis vollautomatisierten Services. Was ist davon zu halten?
Es gibt diese Anbieter, die es schaffen, die Digitalisierung für ihre Beratungsleistung zu nutzen und die interessante Produkte auf den Markt gebracht haben. Aber das sind bisher Einzelfälle.
Wie bewerten Sie insgesamt das Auftauchen solcher alternativen Anbieter?
Für den Mandanten ist das ein guter Deal. Wir können nicht alles verbieten wollen, was mit Computern möglich ist, und das Rechtsdienstleistungsgesetz nach unseren Vorstellungen entsprechend anpassen. Das wird sicher nicht gelingen. Also: Wir müssen uns diesen Herausforderungen stellen.
Das Informationsgefälle zwischen dem Rechtsanwalt, dem Experten, und dem Mandanten, dem Laien, wird eingeebnet. Es gibt neue Möglichkeiten für Mandanten, sich zu informieren. Und auch Alternativen zum Rechtsanwalt. Was heißt das für die anwaltliche Tätigkeit?
Mandanten, die Texte lesen, verstehen und sich schriftlich äußern können, haben einen Vorteil. Das ist klar. Diese Mandanten müssen schon vom Mehrwert einer anwaltlichen Beratung überzeugt werden. Letztendlich müssen wir uns aber gerade auf Situationen einstellen, in denen zum Beispiel die Rechtsabteilung eines Unternehmens mit einem fertigen Vertragsentwurf zum Rechtsanwalt kommt, damit dieser noch einmal gegenprüft und gegebenenfalls auch die Haftung übernimmt, weil der Onlinedienstleister eine solche Garantie wahrscheinlich nicht gibt. Damit müssen wir umgehen lernen.
Glauben Sie, dass die Anwaltschaft auf diese Umbrüche gut vorbereitet ist?
Wir müssen uns dem stellen. Es hat ja keiner vorausgedacht, was da jetzt auf uns zukommt. Ich habe erst vor kurzem verstanden, was unter selbstlernenden Computersystemen zu verstehen ist. Mir ist aber klar, dass es besser ist, eine Million Sachverhalte auswerten zu können als nur ein paar. Selbst wenn man fünf Kollegen mit der Analyse verschiedener Urteile betraut – mit der Geschwindigkeit eines Computers kommen sie nicht mit.
Die Anwaltschaft gilt als eher traditionell, was den Umgang mit neuer Technik betrifft. Glauben Sie, dass sich die Anwälte mehr mit diesen Themen beschäftigen sollten?
Das beA ist ein guter Anfang. Wer sich damit jetzt schon beschäftigt, kann schon mal Ängste abbauen. Das beA ist ja auch gar nicht so viel schwerer zu benutzen als ein E-Mail-Programm. Über diesen Weg konfrontiere ich mich allerdings womöglich zum ersten Mal mit dem Thema. Wir weisen bei der BRAK aber auch immer wieder und verstärkt darauf hin, dass sich etwas tut.
Inzwischen zeigen Projekte aus den USA, aber auch Forschungsprojekte in Europa, dass sich in einem – noch sehr engen Rahmen – gerichtliche Entscheidungen vorhersagen lassen. Computermodelle können berechnen, mit wie viel Prozent Wahrscheinlichkeit ein Gericht zu einer bestimmten Entscheidung tendiert. Für die rechtliche Arbeit heißt das, dass in Zukunft wesentliche rechtliche Einschätzungen auf Computermodellen basieren. Was macht das mit unserem Recht?
Recht ist datengetrieben, weil es tatsachengetrieben ist. Soweit also die Auswertung von Datenbanken dabei hilft, bessere Vorhersagen, zum Beispiel zu Prozessrisiken, zu treffen und zu besseren rechtlichen Bewertungen zu kommen, ist das nur zu begrüßen.
Wird das Rechtssystem durch die Entwicklung transparenter?
Wissen Sie, mit der Transparenz ist das so eine Sache. Wenn über ein BGH-Urteil in einem Zehnzeiler berichtet wird, ist das, was da steht, vielleicht nicht unbedingt verkehrt. Aber wenn man das Urteil liest, stellt sich doch alles oft sehr viel differenzierter dar. Recht ist und bleibt eine komplizierte Angelegenheit.
Und wenn man Transparenz auf die Möglichkeiten des Mandanten bezieht, sich besser zu informieren, oder auch darauf, einen besseren Überblick über richterliche Tendenzen und Trends zu gewinnen?
In diesem Zusammenhang ist Transparenz ein stimmiger Begriff. Je mehr ich auswerten kann, desto klarer sehe ich.
Wird es auf der anderen Seite auch Veränderungen geben? Stehen wir bald digitalen Richtern gegenüber?
So weit wird es nicht kommen – allein schon deshalb, weil in einem Verfahren häufig bis zu 90 Prozent der Zeit für die Klärung des Sachverhaltes aufgewendet werden. Das Programm kann nicht einschätzen, wie ein Zeuge tickt, wann er zum Beispiel nicht mehr die Wahrheit sagt. Aber Richter werden sich natürlich selbst auch die Technik zunutze machen.
Die Digitalisierung muss von beiden Seiten her funktionieren. Noch ist beispielsweise das beA ein System mit vielen Sendern und kaum Empfängern. Die wenigsten Gerichte sind angeschlossen.
Da kann man den Ländern keinen Vorwurf machen. Die Gerichte sollen ab 2018, spätestens ab 2020 angeschlossen werden. Die haben also noch Zeit. Es war von Anfang an klar, dass die Anwälte voranschreiten und das System zuerst nutzen. Es gibt zwar momentan noch keinen Zwang für die Gerichte, dass sie das beA auch benutzen müssen. Aber entweder wird das gesetzlich geregelt oder durch die Kraft der Fakten. Es hat einfach keinen Sinn, auf die beA-Nachricht eines Anwalts mit einem Brief zu antworten. Da wird also sicher noch viel passieren.
Herr Schäfer, ich danke Ihnen für das Gespräch.
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