Verehrte Anwaltschaft,
die Anzahl der Ausbildungsverhältnisse für den Beruf der Rechtsanwaltsfachangestellten stagniert und ist in weiten Teilen sogar rückläufig. Das zeigt neben den nackten Zahlen auch eine Bestandsaufnahme mittels Befragungen der Auszubildenden, der Berufschullehrer*innen und der Berufsberater*innen bei der Bundesagentur für Arbeit. Viele, die den Beruf erlernt haben, wechseln direkt nach der bestandenen Ausbildung oder kurze Zeit später in fachfremde Berufe und sind damit für die Anwaltschaft verloren. Die Anwaltschaft ist inzwischen erheblich vom Fachkräftemangel betroffen. Das gilt für heute und erst recht für die Zukunft. Wollen wir das hinnehmen? Können wir das hinnehmen?
Kaum eine erfolgreiche Kanzlei oder Rechtsabteilung, in der nicht gut ausgebildete Rechtsanwaltsfachangestellte den Anwälten zuarbeiten, selbständig eigene Aufgaben erledigen, den Anwälten bestimmte Tätigkeiten abnehmen und vor allem auch für den reibungslosen Arbeitsablauf in Kanzlei oder Rechtsabteilung sorgen. Können wir wirklich darauf verzichten? Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, aber ich möchte weder meine Rechtsanwaltsfachangestellten noch meine Rechtsfachwirtin missen.
Die Situation in der Ausbildung und der Fachkräftemangel für uns Anwälte ist zum Teil leider selbstgemacht!
Das Ausbildungswesen ist eine der Aufgaben der Rechtanwaltskammer München im Rahmen der Selbstverwaltung. Die Rechtsanwaltskammer München, also Präsidium, Vorstand und alle Beschäftigten, können das Thema Ausbildung aber nicht allein bewerkstelligen. Die Rechtsanwaltskammer München, das sind WIR – die Gesamtheit der Anwaltschaft! Die Situation in der Ausbildung und der Fachkräftemangel für uns Anwälte ist zum Teil leider selbstgemacht!
Die Ausbildung findet überwiegend in Kanzleien, aber auch in Rechtsabteilungen von Unternehmen statt. Ausbilder*innen und Arbeitgeber*innen sind meist Anwältinnen und Anwälte! Gerade das scheint ein Grund für die sinkende Beliebtheit der Ausbildung zur Rechtsanwaltsfachangestellten zu sein. Bei den Befragungen der Auszubildenden entsteht immer wieder der Eindruck, dass Anwältinnen und Anwälte keine guten Ausbilder*innen bzw. Arbeitgeber*innen sind. Dieser Umstand wird regelmäßig als Hauptgrund gegen die Ausbildung und gegen das spätere Ausüben des Berufs genannt. Die Kritik lässt sich folgendermaßen zusammenfassen: hoher Anspruch bei nicht angemessener Bezahlung, mangelnde Wertschätzung, fehlende Unterstützung bei Fort-und Weiterbildung, keine erkennbaren Aufstiegschancen in der Kanzlei oder im Unternehmen.
Einen Hinweis auf die Bedeutung der Rechtsanwaltsfachangestellten für die Anwaltschaft findet sich in der alten Bezeichnung des Berufsbildes: Rechtsanwaltsgehilfe/Rechtsanwaltsgehilfin. Auch wenn diese Berufsbezeichnung heute nicht mehr angemessen ist und daher auch geändert wurde, steckt im Begriff „Rechtsanwaltsgehilfe/Rechtsanwaltsgehilfin“ doch ein wichtiges Wort: HILFE! Rechtsanwaltsfachangestellte helfen Anwältinnen und Anwälten! Wenn Sie jetzt denken, dass das aber erst nach der Ausbildung der Fall ist, dann bedenken Sie, dass es ohne Ausbildung auch keine ausgelernten Rechtsanwaltsfachangestellten gibt. Gut ausgebildete Fachangestellte helfen und unterstützen uns bei der Erledigung unserer herausfordernden Tätigkeit und können dabei wichtige Bereiche abdecken, für die wir die Zeit nicht hätten oder sie uns nicht nehmen wollten. Nicht zu vergessen sind Kompetenzen von Rechtsanwaltsfachangestellten, die sie in Kanzleien exklusiv bereitstellen – ein Ergebnis des bewährten dualen Ausbildungssystems. Eine gute Rechtsanwaltsfachangestellte, ein guter Rechtsanwaltsfachangestellter leistet einen wertvollen Beitrag zum Erfolg der Anwältin, des Anwalts und der Kanzlei! Und schon wieder ist da ein Wort, das so große Bedeutung in diesem Zusammenhang hat: Wert!
Auszubildende und ausgelernte Rechtsanwaltsfachangestellte wollen Wert geschätzt werden! Nur wer wertgeschätzt wird, wird wertvolle Arbeit leisten und definitiv ist das auch im Rahmen der Ausbildung und nicht erst nach deren Abschluss möglich.
Auch wenn das eigentlich selbstverständlich sein sollte, fehlt es daran wohl in vielen Fällen. Wertschätzung bezieht sich dabei nicht nur auf den persönlichen Umgang miteinander, sondern auch auf den Wert der Tätigkeit und den Wert bzw. Gegenwert der Arbeitsleistung. Persönliche Wertschätzung bedeutet einen respektvollen Umgang zwischen Ausbilder*in und Personal, das gerade dem gemeinsamen Interesse dient, nämlich dem Erfolg der Kanzlei und der Ausbildung. Wertschätzung bedeutet aber auch, dass man im Rahmen der Ausbildung, des Ausbildungsplanes und im Rahmen der Kanzleistruktur den Auszubildenden Aufgaben überträgt und ihnen Tätigkeiten lernt, die einen echten Wert für die Kanzlei und deren Mandanten haben und nicht nur Hilfsarbeiten, die auch Personal ohne jede Vorbildung ausüben könnte. Stereotype, aber offensichtlich reale Beispiele sind hier Kaffee kochen, Besorgungen für die Anwältinnen und Anwälte erledigen, der tägliche Botengang und das ewig wiederkehrende Heraussuchen und Einsortieren von Papierakten. Wenn diese Aufgabe auch zu erledigen sind, sollten sie die Ausbildungszeit nicht prägen. Man sollte meinen, dass ein Teil dieser Aufgaben in modernen Kanzleien nicht mehr oder nur in sehr kleinem Umfang anfällt, aber auch das ergibt sich aus den Befragungen nicht. Wie sollen sich Auszubildende wertgeschätzt fühlen, wenn sie oder er das gesamte erste Ausbildungsjahr oder auch darüber hinaus mit Aufgaben wie den oben genannten beschäftigt wird? Hätten Sie das in Ihrer Ausbildung, wenn Sie eine absolviert hätten, so gewollt? Sicher nicht! Auch bereits während einer gut organisierten Ausbildung können die Auszubildenden hochwertige Arbeit, die uns Anwält*innen die eigene Arbeit deutlich erleichtert, leisten. Sie haben das als Ausbilder*in durch die Gestaltung der Ausbildung größtenteils selbst in der Hand.
Wertschätzung bezieht sich nicht zuletzt auf den Gegenwert der Leistung. Selbstverständlich soll die Bemessung der Ausbildungsentgelte berücksichtigen, dass es sich gerade um Auszubildende handelt und nicht um ausgelernte Rechtsanwaltsfachangestellte. Leider werden aber nur allzu oft auch Rechtsanwaltsfachangestellte nach der Ausbildung derart schlecht bezahlt, dass man sich nicht wundern muss, dass sie in dem Beruf für sich keine Zukunft erkennen können. Diese oft schlechte Bezahlung spricht sich herum und ist ein wichtiges Argument unter jungen Leuten, sich auch bei grundsätzlichem Interesse gegen den Beruf zu entscheiden. Es wird von Fällen berichtet, in denen ausgelernte Rechtsanwaltsfachangestellte mit guten bis sehr guten Noten bei einer 40-Stunden-Woche eine monatliche Vergütung von etwa EUR 1.800,- brutto erhalten. Das ist knapp über dem aktuellen Mindestlohn! Mindestlohn ist eine Vergütung, die für Arbeitnehmer passt, die keine Ausbildung haben und keine qualifizierten Arbeiten erledigen. Rechtsanwaltsfachangestellte haben eine anspruchsvolle Ausbildung durchlaufen und erledigen herausfordernde und auch verantwortungsvolle Aufgaben. Das muss entsprechend honoriert werden! Auch wenn die Regelungen des RVG den Handlungsspielraum zur Umlage von Personalkosten einengen, muss ein wirtschaftlich sinnvolles Gefüge aus der Vergütung des Anwalts, Umsatz und Personalkosten gegeben sein. Nicht zuletzt ist das auch eine unserer Berufspflichten: § 26 BORA sieht in Absatz 2 vor, dass die Rechtsanwältin oder der Rechtsanwalt Mitarbeiter*innen und Auszubildende nicht zu unangemessenen Bedingungen beschäftigen darf. Rechtsanwaltsfachangestellte haben eine hochwertige Ausbildung, die Intelligenz, Einsatzbereitschaft sowie Stressresistenz erfordert, und sie leisten einen wichtigen Beitrag zum Erfolg der Kanzleien. Wertvolle Arbeit muss auch entsprechend vergütet werden!
Neue Herausforderungen, aber vor allem auch Lösungsräume ergeben sich hierbei auch aus der Digitalisierung von Kanzlei- und Arbeitsabläufen. Schlagworte wie beA und der elektronische Rechtsverkehr weisen den Weg in die Zukunft auch unseres Berufsstandes, dem sich auf Dauer niemand entziehen können wird.
Es ist an der Zeit, dass die Anwaltschaft aufwacht und erkennt, dass Auszubildende weit besser eingesetzt werden können und müssen, als mit Botengängen, Papierakten sortieren und Kaffee kochen. Junge Menschen, die jetzt mit ihrer Berufsausbildung beginnen, wollen in einem digitalisierten Umfeld mit moderner Technik arbeiten, wollen lernen und sich fortbilden, um sich auf dieser Grundlage eine Zukunft aufzubauen.
Junge Menschen wollen in einem digitalisierten Umfeld mit moderner Technik arbeiten, wollen lernen und sich fortbilden.
Das sind Anforderungen, die die Anwaltschaft für die Zukunft erfüllen muss, damit das Verharren auf alten Gewohnheiten nicht dazu beiträgt, dass ein für uns Anwält*innen elementar wichtiges Berufsbild ausstirbt. Nehmen Sie die Auszubildenden als Chance, Ihre Kanzlei in die digitalisierte Zukunft zu führen und vielleicht auch von den Auszubildenden gerade in diesem Zusammenhang neue Impulse zu erhalten.
Bildquelle: ibravery/Adobe Stock