Nach dem Studium der Rechtswissenschaften und einer einjährigen Tätigkeit in einer Rechtsanwaltskanzlei begann Dr. Thesling seine berufliche Laufbahn im höheren Dienst der Finanzverwaltung des Landes Nordrhein-Westfalen und war beim Finanzgericht Düsseldorf und als Referent in der Staatskanzlei des Landes Nordrhein-Westfalen tätig. Über zehn Jahre war er Abteilungsleiter in der Landtagsverwaltung und kehrte 2016 als Präsident an das Finanzgericht Düsseldorf zurück. Seit 2018 leitete er die Abteilung für Personal und Recht im nordrhein-westfälischen Ministerium der Justiz.
Herr Dr. Thesling, wir möchten Ihnen zu Beginn unseres Interviews zunächst einmal herzlich zu Ihrer Ernennung zum Präsidenten des Bundesfinanzhofs gratulieren. Was hat Sie nach Studium und Anwaltstätigkeit bewogen, Ihren beruflichen Werdegang im höheren Dienst der Finanzverwaltung einzuschlagen? Was hat Sie daran gereizt?
Ganz herzlichen Dank für Ihre Gratulation zu meiner Ernennung. Zum zweiten Teil Ihrer Frage: Mit dem Wechsel in die Finanzverwaltung habe ich zwei Ziele verfolgt, die sich so nur dort verbinden ließen. Zum einen wollte ich mir die Möglichkeit eröffnen, fachlich im Steuerrecht tätig sein zu können, und zum anderen war mein Ziel, in einer großen Organisation für Personal und Führungsaufgaben eingesetzt zu werden. So war die Finanzverwaltung das Richtige als Berufsanfänger.
Dann führte Sie Ihr Weg in die Finanzgerichtsbarkeit. Welche Kernpunkte Ihrer dortigen Tätigkeit sind für Sie von besonderem Wert?
Die richterliche Tätigkeit ist gekennzeichnet durch eine allein an der fachlichen Überzeugung orientierten Arbeitsweise. Das hat für viele Juristen einen hohen Stellenwert. So war es in meiner damaligen Situation auch für mich.
Sie übernehmen als zwölfter Präsident des obersten Gerichts in Steuer- und Zollsachen die Nachfolge von Prof. Dr. h.c. Mellinghoff und den Vorsitz des IX. Senats, der für die Besteuerung von Einkünften aus Vermietung und Verpachtung sowie der gewerblichen Einkünfte aus der Veräußerung von Anteilen an Kapitalgesellschaften zuständig ist. Welche Herausforderungen sehen Sie auf den Bundesfinanzhof in den nächsten Jahren zukommen? Was haben Sie sich vorgenommen?
Ich übernehme die Leitung des Bundesfinanzhofs zu einem Zeitpunkt, der geprägt ist zum einen von den besonderen Schwierigkeiten, die die Corona-Schutzmaßnahmen für den Gerichtsbetrieb mit sich gebracht haben, und zum anderen von einem ungewöhnlich hohen Anteil unbesetzter Vorsitzendenstellen. Zum Beispiel waren über einen längeren Zeitraum von elf Vorsitzendenstellen fünf vakant, mit allen Folgen, die eine solche Doppelbelastung für die Vertreter und die betroffenen Senate mit sich bringt. Diese Lücken haben sich zum Teil bereits geschlossen; Maßnahmen zur Besetzung der restlichen offenen Stellen sind eingeleitet. So bin ich zuversichtlich, dieses Nahziel zu erreichen.
Mittelfristig muss der Bundesfinanzhof wie die gesamte Justiz seinen Standort und seine Aufgabe in den Zeiten fortschreitender Digitalisierung des Wirtschaftslebens und Internationalisierung des Rechts definieren. Ein weiterer Aspekt der beschriebenen gesamtgesellschaftlichen Entwicklung ist die veränderte Wahrnehmung der Justiz in der Öffentlichkeit und die damit verbundene Notwendigkeit für die Justiz, an ihrem Bild in der Öffentlichkeit aktiv mitzuwirken. Und schließlich muss speziell die Finanzgerichtsbarkeit und der Bundesfinanzhof Antworten finden auf die Veränderungen, die sich aus der digitalisierten Steuerfestsetzung durch die Finanzverwaltung neu ergeben. Auch unter diesen Bedingungen hat der Bundesfinanzhof die Einheitlichkeit der Steuerrechtsauslegung und -anwendung zu gewährleisten.
Bundesjustizminister Dr. Marco Buschmann sagte bei Ihrer Ernennung: „Herr Dr. Thesling [bringt] auch langjährige Erfahrung als Abteilungsleiter im Ministerium der Justiz des Landes Nordrhein-Westfalen sowie in der Landtagsverwaltung Nordrhein-Westfalen mit. Das macht ihn zu einem Präsidenten, der sowohl die Entstehung als auch die Anwendung des Gesetzes hervorragend kennt.“ Was denken Sie: Welche Erfahrungen aus Ihren bisherigen Tätigkeiten sind bei Ihrer neuen Aufgabe besonders hilfreich?
Ich habe in meinem beruflichen Werdegang eine ganze Reihe von Verwaltungen von innen kennengelernt, nicht nur Gerichtsverwaltungen. Dabei konnte ich viele Merkmale großer Organisationen wie auch spezifisch durch richterliche Arbeit geprägte Besonderheiten beobachten. Zugleich habe ich die Entstehung vieler Gesetze vom Referentenentwurf bis zum Beschluss im Parlament in dritter Lesung über Jahre verfolgen können. Diese Erfahrungen haben meinen Umgang mit Gesetzestexten verändert.
Schwerpunkt dieses Mitteilungsblattes ist die Digitalisierung in der Justiz. Sowohl der Bund als auch der Freistaat Bayern widmen diesem Thema besondere Aufmerksamkeit. Dabei liegt der Fokus oftmals auf den Vorteilen der Digitalisierung, die unbestritten sind. Aber es gibt auch Schattenseiten: Der BFH war zum Jahresende 2021 beispielsweise Ziel eines Hackerangriffs. Welche Chancen und Risiken sehen Sie in der Digitalisierung?
Die Digitalisierung habe ich eben bereits als eine der großen Herausforderungen für die Justiz angesprochen. Sie steht im Mittelpunkt vieler Bemühungen aller Justizverwaltungen des Bundes und der Länder und ist organisatorisch und strategisch das größte Vorhaben der letzten 20 Jahre. Natürlich ist die Digitalisierung mit Risiken verbunden, wie der Hackerangriff im letzten Jahr belegt. Dennoch bleibt sie unverzichtbar. Die ständig fortschreitende Digitalisierung in der Wirtschaft zeigt, dass eine Abkopplung von dem Entwicklungsprozess nicht in Betracht kommt. Es muss Vorsorge getroffen werden, soweit dies möglich ist, und jeder Schritt sorgfältig geprüft werden. Aber die gesetzlichen Vorgaben zeigen, dass ihre Fortentwicklung auch von der Justiz erwartet wird. Ich denke, dass wir uns in Bezug auf die Digitalisierung in einer ähnlichen Situation befinden wie die Anwaltschaft.
Von außen betrachtet ist die Digitalisierung im Finanzwesen schon weiter fortgeschritten als im Bereich der Justiz. Wie schätzen Sie diese Entwicklung ein? Kann die Justiz von den Erfahrungen im Finanzwesen profitieren und lernen? Wenn ja, von welchen?
Ich teile Ihre Einschätzung, dass die Digitalisierung im Finanzwesen weiter vorangekommen ist als in der Justiz. Es sind schon sehr weitreichend Daten digital vorhanden und sie werden digital verarbeitet, zu großen Teilen ohne jedes Zutun von Menschen. Das gilt für die Finanzverwaltung in gleicher Weise wie beispielsweise für Wirtschaftsprüfer. So hat sich die Arbeitsweise eines Steuerprüfers gegenüber der Zeit, als ich Finanzbeamter war, grundlegend geändert. Die E-Bilanz und Prüfsoftware machen es möglich. Für die Arbeit der Justiz dürfte Legal Tech in den kommenden Jahren den größten Einfluss auf die richterliche Arbeit nehmen.
Für die finanzgerichtliche Rechtsprechung sehe ich zunächst Klärungsbedarf: Wie wird ein entscheidungserheblicher Sachverhalt aus den Datensätzen ermittelt? Welche Folgen werden daraus für den Amtsermittlungsgrundsatz und die Darlegungs- und Beweislastregeln gezogen? Wer bereitet die in den Datenpools der Steuerverwaltung liegenden Einzelfallinformationen so auf, dass sie in die Finanzgerichtsprozesse eingeführt werden können? Die Rechtsprechung wird Gelegenheiten erhalten, sich dazu zu positionieren.
Die Ernennung zum Präsidenten des Bundesfinanzhofs brachte für Sie einen Umzug von Nordrhein-Westfalen nach Bayern mit sich. Hatten Sie bereits Gelegenheit, sich in München ein bisschen umzusehen und einzugewöhnen? Was vermissen Sie aus der Heimat besonders, und wie gefallen Ihnen Land und Leute des Freistaats und der Landeshauptstadt?
In München lebe ich erst seit wenigen Wochen. Dabei stand meine Aufgabe im Hof natürlich im Mittelpunkt. Die Einschränkungen durch die Pandemie und das winterliche Wetter haben meine Neugier zunächst gebremst. Da hier Besserung zu erwarten ist, werde ich mich sicher bald den zahlreichen Vorzügen von München und dem attraktiven Umland zuwenden können. Land und Leute habe ich in vielen Urlauben schätzen gelernt. Dies als Neu-Münchner genießen zu können, darauf freue ich mich besonders.
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