Rechtsanwälte sollten den Verlockungen des § 128a ZPO im Zweifel widerstehen

Der virtuelle Gerichtssaal: Nachteile aus Sicht der Anwaltschaft
TEXT: RA Konstantin Kalaitzis, KALAITZIS · HALDER, Vizepräsident RAK München

Der Zeuge machte einen etwas verlorenen Eindruck, als er den Sitzungssaal betrat. Fast unwillig nahm er auf dem Zeugenstuhl Platz und quittierte die Frage des Gerichts, ob er die Belehrung verstanden habe, mit einem kaum vernehmbaren „Ja“. Seine Sitzhaltung war verkrampft. Die Finger beider Hände hatten sich fest ineinander gekrallt, so als suchten sie irgendwo inneren Halt. Je länger die Vernehmung andauerte, desto unwohler schien er sich in seiner Haut zu fühlen. Unruhig rutschte er hin und her. Immer wieder suchte er den Blickkontakt zum Kläger. Auf kritische Vorhalte hin antwortete er unsicher. Er verfing sich schließlich in Widersprüche und berief sich am Ende auf Erinnerungslücken.

I. „Die Notwendigkeit zu entscheiden reicht weiter, als die Möglichkeit zu erkennen“1 

So könnte man das Dilemma des Richters zusammenfassen, von dem man erwartet, dass er zumindest zu einem richtigen Urteil kommt. Und auch im Zivilprozess ist hier nur der richtige Weg das Ziel. Der wichtigste und zugleich unzuverlässigste Pfad zur Wahrheit ist bekanntlich der Zeugenbeweis. Es verwundert daher nicht, dass erst die Covid-19-Pandemie die Möglichkeit, per Videoübertragung zu verhandeln, in den Fokus nicht nur richterlicher Begehrlichkeiten gerückt hat. Dabei wurde § 128a ZPO bereits zur großen ZPO-Reform vor 20 Jahren eingeführt, zu einer Zeit also, als der Begriff „Legal Tech“ noch gar nicht existierte.

Und obgleich längst bekannt sein sollte, dass eine nicht-exakte Wissenschaft, die geprägt ist von unzähligen, unbestimmten Rechtsbegriffen und einer Rechtsprechung, die ständig im Fluss ist, sich nicht binär bewältigen lässt, so ausgeklügelt die Algorithmen auch sein mögen, herrscht beim Thema Videoverhandlung derzeit eine fast schon unheimliche Euphorie. Hatte die Richterschaft bei der letzten Novellierung des
§ 128a ZPO im Jahre 2013 noch Bedenken gegen eine Online-Vernehmung geäußert2, weil „non-verbale Umstände, die für die Frage der Glaubwürdigkeit eine besondere Bedeutung haben, im Wege der Videokonferenz weniger zuverlässig erfasst werden können, als in einer unmittelbar geführten Vernehmung“, steht heute die Angst vor einem anhaltendem Verfahrensstau im Vordergrund.3 Auch der DAV stimmt ein in diesen Chor der digitalen Zeitenwende und empfiehlt: „Keine Angst vor § 128a ZPO!“4 Doch wenn die Politik diese Verhandlungsform auch im Strafprozess „zumindest für die Dauer der Corona-Pandemie“ erweitern will5, so als sei es ein im Zweifel hinnehmbares Übel, dass Unschuldige planwidrig hinter Gittern landen, muss man fragen: Ist der Gesundheitsschutz wirklich wichtiger als der Rechtsstaat?

II. „Wehret den Anfängen“6

Keine Frage: Nachdem die Justizverwaltungen dabei sind, deutsche Gerichtssäle endlich mit brauchbarer Videotechnik auszustatten, kann man § 128a ZPO in Zeiten von Homeoffice und Homeschooling nicht mehr ignorieren, von ökonomischen und ökologischen Aspekten ganz abgesehen. Keine unnötigen Fahrzeiten und Fahrtkosten mehr, keine nervige Parkplatzsuche, kein lästiges Umsteigen im ÖPNV, sondern gemütliches Verhandeln vom eigenen Schreibtisch oder Wohnzimmer aus, idealer Weise bei einer Tasse frisch gebrühtem Kaffee. Und auch die Terminabstimmung wäre um einiges leichter, müssten Richter sich doch nicht danach richten, wann ein Sitzungssaal frei ist. 

Wer in Zukunft jedoch am liebsten nur noch online verhandeln möchte, sollte wissen, dass er damit an eherne Prozessmaximen und damit am Rechtsstaat selbst rüttelt.

Wer in Zukunft jedoch am liebsten nur noch online verhandeln möchte, sollte wissen, dass er damit an eherne Prozessmaximen und damit am Rechtsstaat selbst rüttelt. Aber anstatt darüber zu diskutieren, zerbricht man sich den Kopf über die Robenpflicht.7 Dabei liegt die Antwort hier doch klar auf der Hand: Am besten packt man neben Badehose vorsorglich (§ 20 BORA) auch die Anwaltsrobe mit in seinen Urlaubskoffer.

1. Online-Verhandlung, § 121a Abs. 1 ZPO

De lege lata kann das Gericht den Parteien, ihren Bevollmächtigten/Beiständen auf Antrag oder von Amts wegen gestatten, sich während der mündlichen Verhandlung „an einem anderen Ort“ aufzuhalten. Wo dieser Ort sein kann, sagt das Gesetz nicht. Dass das Gericht diesen Ort bestimmen können soll, gibt der Gesetzeswortlaut ebenfalls nicht her. In Bezug auf die Rechtsanwälte jedenfalls ging der Gesetzgeber von der naiven Vorstellung aus, diese würden sich aus ihren Kanzleien heraus zuschalten.8 Denn anderenfalls könnten sie Gefahr laufen, Gebührenverluste zu erleiden, falls sie sich etwa aus ihrem Urlaubsort oder aus dem Homeoffice zuschalten und die Gerichtsverhandlung damit partiell in den Privatbereich verlegen.9 Man mag sich die Szenerie, dass Gericht und Prozessbeteiligte darüber streiten, welcher Online-Ort würdig und geeignet genug für eine Gerichtsverhandlung ist, jedenfalls gar nicht ausmalen. Klar ist nur, dass das Gericht am Gerichtsort (§ 219 ZPO) verhandeln muss, also im Gerichtsgebäude und zwar unter Beachtung der Öffentlichkeit (§ 169 GVG). Es verwundert daher nicht, dass die, von den Präsidentinnen und Präsidenten der Oberlandesgerichte sowie des BGH beauftragte „Arbeitsgruppe Modernisierung des Zivilprozesses“10 fordert, künftig ebenfalls etwa vom Homeoffice aus mündlich verhandeln zu dürfen. Bei Bedarf könne sich der Spruchkörper ja auch digital in einen geschützten (gibt es so etwas?) Raum zurückziehen, etwa um eine Zwischenberatung durchzuführen. 

Welche Lücken § 128a ZPO in seiner jetzigen Fassung noch in sich trägt, die wohl auch die Rechtsprechung nicht schnell genug schließen können wird, zeigt sich auch bei der Frage einer „digitalen Säumnis“. Wie verfahren, wenn eine Partei plötzlich aus der Leitung fliegt oder ihr Anwalt angesichts des Verhandlungsverlaufes technische Schwierigkeiten vorgibt, statt offen in die Säumnis zu fliehen? Und: Nach aktueller Gesetzeslage kann, muss eine Partei aber nicht online verhandeln. Wer also auf das Recht besteht, sein Anliegen in Präsenz vorzutragen, torpediert damit womöglich vor allem auch den Sitzungsplan des Richters.

Nach aktueller Gesetzeslage kann, muss eine Partei aber nicht online verhandeln.

2. Online-Vernehmungen, § 121 Abs. 2 ZPO

Das Gericht kann ferner, jedoch nur auf Antrag, durch unanfechtbaren (!) Beschluss gestatten, dass sich ein Zeuge, ein Sachverständiger oder eine Partei während einer Vernehmung an einem anderen Ort aufhält. Auch das moniert die justizielle Arbeitsgruppe, allerdings nicht mehr so nachhaltig wie noch 2013. Denn Richter würden eine Online-Vernehmung natürlich „nur in geeigneten Fällen“ anordnen, nämlich dann, wenn es nicht auf den unmittelbaren Eindruck vom Zeugen ankäme. Aber wann ist das schon? Dass sich die Unwahrheit selbst ohne „Souffleur“ leichter in eine Kamera sagt, als direkt in das Angesicht des Richters, zeigt die Erfahrung.11 Dabei scheinen Richter auch einem Schwarz-Weiß-Denken zu erliegen: Denn auch die Körpersprache eines Zeugen, der bar jedes Motives nicht lügt, sondern sich schlicht irrt, kann im Rahmen eines unmittelbaren Gesamteindruckes von Bedeutung sein.

Umso bemerkenswerter ist, dass die Richterschaft sich nach wie vor strikt gegen eine Aufzeichnung von Video-Vernehmungen ausspricht ...

Außerdem: Wozu noch eine Robenpflicht, wenn Parteien ihre informatorische Anhörung oder Zeugen ihre Vernehmung nur noch als Videokonferenz wahrnehmen? Spätestens aber, wenn ein bislang „unkontaminierter“ Zeuge plötzlich auf dem Bildschirm in der Kanzlei eines Prozessvertreters erscheint, wird sich selbst ein aussagepsychologisch ungeschulter Richter fragen müssen, welchen Beweiswert diese Aussage denn noch haben soll. Umso bemerkenswerter ist, dass die Richterschaft sich nach wie vor strikt gegen eine Aufzeichnung von Video-Vernehmungen ausspricht, weil Berufungsrichter dann künftig ständig Videos schauen müssten.12 Ein Schelm, wer Böses dabei denkt.

III. „Der Geist ist willig, aber das Fleisch ist schwach“13 

Man darf also gespannt und mit großer Skepsis abwarten, was die corona-geboosterte digitale Zukunft hier noch bringt. Denn frühere Reformpakete des Gesetzgebers verliefen mitunter nach dem Prinzip „Trial & Error“. Zur Erinnerung: Mit der großen ZPO-Reform 2002 wurde nicht nur § 128a ZPO neu eingeführt, sondern auch die Güteverhandlung, die den Schlichtungsgedanken aber lediglich „institutionalisieren“ sollte, waren Richter doch bereits davor schon gehalten, in jeder Lage des Verfahrens auf eine gütliche Einigung hinzuwirken. Das Ergebnis ist vor allem eine Aufweichung der Konzentrationsmaxime. Einem monatelangen schriftlichen Vorverfahren folgt eine Güteverhandlung, der sich eine mündliche Verhandlung anschließt, in der – im Gegensatz zur früheren Gerichtspraxis – häufig nur noch die Anträge gestellt werden. Vergehen bis zum Folgetermin weitere Monate, realisiert sich, was § 272 ZPO gerade verhindern will. Andernorts sagt man dazu auch: „Justice delayed is justice denied“.

Damit und auch mit der Entwertung der Berufungsinstanz als vollwertige, zweite Tatsacheninstanz dürfte der Zivilprozess, so die damalige Gesetzesbegründung, mitnichten „bürgernäher, effizienter und transparenter“ geworden sein. Man hat damit allenfalls die Rechtspflege etwas entlastet, ohne die Länderhaushalte zu belasten14 und das Haftungsrisiko weiter auf die Anwaltschaft verlagert.15 Denn der quasi „rechtsstaatliche Ausgleich“ durch die gravierende Verschärfung des
§ 139 ZPO blieb mehr oder weniger Makulatur. Brauchbare Hinweise werden (wenn überhaupt) auch heute meist erst in der mündlichen Verhandlung erteilt. Menschlich ist dies durchaus verständlich, denn auch Richter bereiten sich oft erst ganz kurzfristig und nur so intensiv vor, wie eine Güteverhandlung in Gestalt eines „faktischen Schiebetermins“ dies erfordert.

Brauchbare Hinweise werden (wenn überhaupt) auch heute meist erst in der mündlichen Verhandlung erteilt.

Wer also meint, Gerichte würden ausreichend verantwortungsvoll mit neuen, prozessualen Gestaltungsmöglichkeiten umgehen und eine Video-Verhandlung allenfalls in geeigneten Fällen anordnen, der vergisst, dass auch Richter nur Menschen sind. Deshalb sah der Gesetzgeber sich auch gezwungen, Fehlentwicklungen aus seinen früheren Reformbemühungen zur Entlastung der Justiz zu korrigieren. So musste 2002 nicht nur § 128 Abs. 3 ZPO a.F. (Schriftliche Verhandlung) ersatzlos gestrichen werden; im Hinblick auf das Rechtsstaatsprinzip musste ferner fristgerecht zum 01.01.2005 reagiert16 und § 321a ZPO (Anhörungsrüge) neu eingeführt werden, weil auch § 495a ZPO (Verfahren nach billigem Ermessen) „aus dem Ruder gelaufen“ war. Denn mittlerweile resultierten mit 675 Verfahren rund 97 % aller Verfassungsbeschwerden aus diesen beiden Bestimmungen.17 Dem Bundesverfassungsgericht drohte damit der knock-out. Und dennoch muss Karlsruhe selbst heute immer wieder mal einschreiten, weil Richter den Verlockungen des § 495a ZPO nicht widerstehen können. Richtig, d. h. rechtsstaatskonform angewandt, bringt diese Norm der Rechtspflege nämlich kaum eine echte Entlastung.18

Rechtsanwälte sollten den Verlockungen des § 128a ZPO im Zweifel widerstehen.

§ 128a ZPO enthält bereits jetzt ähnliche Verlockungen, denen jedenfalls Rechtsanwälte widerstehen sollten, wollen sie nicht als nur Unternehmer wahrgenommen werden. Wer sich aus Gründen der Bequemlichkeit oder aus wirtschaftlichen Aspekten vorschnell auf reine Videoverhandlungen einlässt und dabei im Zweifel auch Nachteile für seinen Mandanten in Kauf nimmt, vergisst, dass sein Berufsstand sich in § 1 Abs. 2 und Abs. 3 BORA ein hehres Selbstverständnis gegeben hat, auf das der rechtssuchende Bürger im Sinne von § 43 BRAO vertrauen können muss.

Fazit: Ja, § 128a ZPO kann in vielerlei Hinsicht die Rechtspflege, mithin auch den anwaltlichen Alltag vereinfachen. Allerdings sollte man nur in wirklich geeigneten Fällen online verhandeln, wozu eine Partei- oder Zeugeneinvernahme in der Regel nicht gehört. Eigentlich wäre die Güteverhandlung dafür geradezu prädestiniert. Leider ist dies seit der letzten Novellierung des § 128a ZPO aber nicht mehr möglich, da die Güteverhandlung nicht Teil der „mündlichen Verhandlung“ ist.19 Auch hier müsste der Gesetzgeber die Novellierung seiner Reform also sozusagen „re-re-reformieren“.

Literaturverzeichnis:

Immanuel Kant, deutscher Philosoph, 1724–1804

BT-Drs. 17/1224

ZEIT Online vom 07.06.2020

Windau, in: Anw.Bl. 2021, 26

Newsletter des Bayerischen Staatsministeriums für Justiz vom 06.05.2020

Ovid, römischer Dichter, 43 v. Chr.–18 n. Chr.

Fußn. 4

BT-Drs. 17/1224

BGH NJW 2004, 2311

10 DRiZ 2020, 296; auch online hinterlegt beim OLG Nürnberg

11 Musielak/Voit, ZPO, 18. Aufl., Rn. 7 zu § 128a

12 Fußn. 10

13 Matthäus 26,41

14 BT-Drs. 14/6036

15 Martin in: AnwBl. 2021, 360; Dute in: NJW 2022, 359

16 BVerfG NJW 2003, 1924

17 Rensen in: MDR 2005, 181 (Fußnote 2)

18 Zöller, ZPO, a. a. O., Rn. 1 zu § 495a

19 Zöller, a. a. O., § 278 Rn. 6

 

 

Bildquelle: geralt/Pixabay