Mehr Digitalisierung wagen: Videoverhandlungen im Zivilprozess

Der virtuelle Gerichtssaal: Vorteile aus Sicht der Anwaltschaft
TEXT: RA Dr. Frank Remmertz, REMMERTZ | LEGAL, Vorstand RAK München

Wer hätte gedacht, dass man Videoverhandlungen im Zivilprozess bereits seit gut 20 Jahren führen kann. Wie man an dem kleinen „a“ hinter § 128 ZPO schnell bemerkt, wurde die Vorschrift erst später, genauer gesagt im Jahr 2002 in die ZPO eingeführt1, und das zu einer Zeit, als noch niemand an eine Pandemie dachte, die § 128a ZPO erst so richtig ins Rampenlicht gerückt hat. Danach kann das Gericht den Parteien, ihren Bevollmächtigten und Beiständen auf Antrag oder von Amts wegen gestatten, sich während einer mündlichen Verhandlung an einem anderen Ort aufzuhalten und dort Verfahrenshandlungen vorzunehmen (§ 128a Abs. 1 Satz 1). Die Verhandlung wird zeitgleich in Bild und Ton an diesen Ort und in das Sitzungszimmer übertragen (Satz 2).

In der Pandemie haben Videoverhandlungen neben dem beA für viele Kolleginnen und Kollegen den beruflichen Alltag erheblich erleichtert, wenn nicht gar ermöglicht. Im Zuge der Digitalisierung der Justiz will man nun auch Videoverhandlungen zu Recht weiter ausbauen, was nicht nur Zeit und Kosten spart, sondern auch klimapolitisch gut in die Zeit passt.

Der begrenzte Umfang dieses Beitrags lässt es nicht zu, das Thema erschöpfend zu behandeln. Es werden daher nur die wichtigsten Punkte aufgegriffen und in den nachfolgenden zehn Thesen zur Diskussion gestellt:

1. Technische Grundvoraussetzungen

Grundvoraussetzung ist zunächst, dass der verstärkte Einsatz von Online-Verhandlungen von einer Verbesserung der technischen Infrastruktur bei den Gerichten und einem flächendeckenden Ausbau von leistungsfähigem Internet, insbesondere im ländlichen Raum, begleitet werden muss. Videoverhandlungen sollten nicht länger an der fehlenden IT der Gerichte und am wackligen Internet der Teilnehmer scheitern. Insoweit sind weitere Investitionen unerlässlich. Zudem sollten in technischer Hinsicht einheitliche Standards geschaffen werden.2 Wenn es für die Gerichte leichter möglich ist, Video-Verhandlungen zu führen, wird auch deren Bereitschaft zur Teilnahme steigen. Denn nicht selten werden Anträge nach § 128a ZPO abgelehnt, weil die erforderliche IT-Infrastruktur bei den Gerichten (noch) nicht vorhanden ist.3 

Eine Videoverhandlung eignet sich gut für Streitigkeiten, wo Rechtsfragen im Vordergrund stehen.

2. Wahrung der Prozessgrundrechte

Als Ersatz für eine Präsenzteilnahme an einer mündlichen Verhandlung ist es unerlässlich, dass die allgemeinen Prozessgrundrechte der Mündlichkeit, der Unmittelbarkeit und der Öffentlichkeit gewahrt bleiben.4 Hier gibt es auch keinen Dissens. Nicht so einig ist man sich aber, wie dies bei Online-Verhandlungen konkret umgesetzt werden kann. Klar ist, dass sich Videoverhandlungen nicht in allen Fällen eignen, selbst dort, wo dies zulässig sein könnte. Die Zeugeneinvernahme und auch umfangreichere Beweisaufnahmen5 sind für eine Videoverhandlung eher ungeeignet, könnten aber in Einzelfällen erlaubt werden, wenn alle Beteiligten zustimmen.6 Eine Videoverhandlung eignet sich gut für Streitigkeiten, wo Rechtsfragen im Vordergrund stehen. Dies ist häufig in wirtschaftsrechtlichen Streitigkeiten der Fall.7

3. Anspruch auf Teilnahme an einer Videoverhandlung

De lege lata liegt es im Ermessen des Gerichts, Anträgen der Parteivertreter auf Teilnahme an einer Videoverhandlung stattzugeben. Die BRAK hat sich zu Recht für eine verbindliche Teilnahme stark gemacht, wenn dies von den Parteivertretern übereinstimmend beantragt wird.8 Es sollte noch ein Schritt weiter gegangen und für jeden einzelnen Bevollmächtigten ein Anspruch auf Online-Teilnahme an einer mündlichen Verhandlung eingeführt werden.9 Dies sollte auch eine vorangehende Güterverhandlung nach § 278 Abs. 2 ZPO mit einbeziehen.10 Andernfalls besteht die Gefahr, dass die Teilnahme durch den Gegner aus prozesstaktischen Gründen verhindert wird, z. B. wenn eine lange Anreise zum Gericht erforderlich ist. Für einen solchen Anspruch müsste die Kann-Regelung in § 128a Abs. 1 ZPO abgeschafft werden.

4. Keine verpflichtende Onlineverhandlung

Eine verpflichtende Onlineverhandlung auf Anordnung eines Gerichts, wie dies z. T. vorgeschlagen wird11, ist abzulehnen, von Ausnahmen wie akuten Pandemiesituationen einmal abgesehen.12 Dies ist auch gegenwärtig nicht möglich (vgl. Wortlaut „… kann gestatten, …“). Es sollten auch nur die Kolleginnen / Kollegen online teilnehmen können, die das beantragen. Eine Präsenzteilnahme sollte gleichwohl für alle Teilnehmer wie bisher auch jederzeit möglich sein, selbst nach gestelltem Antrag.

5. Anforderungen an den „anderen Ort“ 

Der „andere Ort“ i. S. v. § 128a ZPO muss nicht die Kanzlei sein.13 Die Pandemie hat gezeigt, dass man auch gut aus dem Homeoffice arbeiten kann. Ob und inwieweit Anforderungen an das räumliche Umfeld zu stellen sind (auch im Biergarten, auf den Malediven?), ist eine der offenen Fragen, die noch zu klären sind. Es sollte zumindest ein unserem Berufsstand entsprechend angemessenes Umfeld sein, was sich heute mit virtuellem Hintergrund aber praktisch an jedem beliebigem Ort realisieren lässt. 

6. Pflicht zum Tragen einer Robe?

Eine der spannenden Fragen wird auch sein, ob man vor dem Bildschirm eine Robe tragen muss, wenn man in Zivilsachen in einer Videoverhandlung vor einem Land- oder Oberlandesgerichts auftritt. Bisher ist eine „Berufstracht“ nach § 20 BORA zu tragen, „soweit das üblich ist“. Soweit ersichtlich, hat sich bei Online-Verhandlungen dahingehend noch keine feste Übung herausgebildet. Um eine Zersplitterung der Gerichtspraxis zu vermeiden, sollte in der BORA durch einen Zusatz in Satz 2 klargestellt werden, dass es auch bei Videoverhandlungen keine Berufspflicht zum Tragen einer Robe gibt. Eine entsprechende Berufspflicht ließe sich wohl auch verfassungsrechtlich kaum rechtfertigen.  

Eine der spannenden Fragen wird auch sein, ob man vor dem Bildschirm eine Robe tragen muss.

7. Virtueller Sitzungssaal?

Diskutiert wird auch, ob sich auch das Gericht von „einem anderen Ort“ aus zuschalten kann.14 Insoweit ist Skepsis angezeigt. Das Gericht sollte grundsätzlich im Sitzungssaal tagen und auch bei einem Richterkollegium alle Richter gleichzeitig anwesend sein. Problematisch ist, wenn Kammer- oder Senatsmitglieder sich von verschiedenen Orten aus zuschalten. Kann man dann – zumindest für die mündliche Verhandlung – überhaupt noch von einem Gremium sprechen? Man könnte allerdings für Einzelrichter Ausnahmen vorsehen. 

8. Teilnahme der Parteien

Parteien sollten sich problemlos online einwählen können, auch wenn keine Vernehmung ansteht. Das schafft Transparenz, führt aber möglicherweise dazu, dass mehr Parteien als bisher bei Verhandlungen dabei sind, was aus Anwaltssicht nicht immer vorteilhaft ist, zumal eine Kommunikation mit den Mandanten durch die Online-Teilnahme erschwert wird. Jeder von uns kennt das Problem, wenn ein Mandant sich in der mündlichen Verhandlung „um Kopf und Kragen redet“. Hier wird es erforderlich sein, die Teilnahme an der Online-Verhandlung mit dem Mandanten im Vorfeld sorgfältig vorzubereiten. 

9. Technische Störungen

Für technische Störungen und Ausfälle sollte es eine Telefon-Hotline direkt zum Richter geben. Interessant wird sein, ob ein technisches Problem auch als Gelegenheit für eine „Flucht“ gesehen wird, z. B. wenn eine Verhandlung mal nicht so gut läuft („Flucht in das technische Problem“15 als Pendant zur „Flucht in die Säumnis“). Hier bleibt es der Rechtsprechung überlassen, solche Fälle einer „technischen Säumnis“ zu entscheiden, wie dies auch bei Störungen und Anwendungsfehlern mit dem beA bereits erfolgt.

10. Last but not least: Wahrung der Öffentlichkeit

Der Öffentlichkeitsgrundsatz könnte dadurch gewahrt werden, indem über eine Webseite des jeweiligen Gerichts mit dem Erfordernis einer Anmeldung und Registrierung eine Teilnahme an den Verhandlungen per Stream ermöglicht wird. Es stellen sich aber datenschutzrechtliche Fragen. Zudem muss eine Aufzeichnung und Verbreitung durch die Öffentlichkeit definitiv ausgeschlossen werden. Alternativ könnte in dem jeweiligen Gericht ein Zimmer oder eine sonstige technische Einrichtung (Bildschirm und Kopfhörer) zur Verfügung gestellt werden.16 Eine Aufzeichnung der Online-Verhandlung ist nach § 128a Abs. 3 Satz 1 ZPO de lege lata ausgeschlossen. De lege ferenda sollte aber eine Aufzeichnung in Einzelfällen in Betracht gezogen werden, z. B. bei Zeugenbefragungen, wenn alle Beteiligten (auch das Gericht) zustimmen. 

Literaturverzeichnis:

Durch das ZPO-Reformgesetz zum 01.01.2002, BGBl. I S. 1887, Art. 2 Nr. 18a; zuletzt geändert mit Wirkung zum 01.11.2013 durch das Gesetz zur Intensivierung des Einsatzes von Videokonferenztechnik in gerichtlichen und staatsanwaltlichen Verfahren, Art. 2 Gesetz vom 25.04.2013, BGBl. I S. 935; Entsprechende Vorschriften finden sich auch in anderen Verfahrensordnungen, siehe zu alldem MüKo-ZPO/Fritsche, 6. Aufl. 2020, § 128a ZPO Rn. 1 und 2.

Das BMJV hat im April 2021 ein Projekt für bundesweit einheitliche Standards gestartet, siehe Stellungnahme der BRAK v. 22.04.2021, abrufbar unter https://www.brak.de/newsroom/newsletter/nachrichten-aus-berlin/2021/ausgabe-8-2021-v-2242021/bundesweite-standards-fuer-videoverhandlungen-brak-nimmt-stellung.

Nach einer im August 2021 vom DAV durchgeführten Befragung von Kolleginnen und Kollegen kommen die Gerichte – auch während der Pandemie – nur in ca. 15-20% entsprechenden Anträgen nach, siehe DAV-Stellungnahme Nr. 48/2021, Seite 4, abrufbar unter https://anwaltverein.de/de/newsroom/sn-48-21-videoverhandlungen.

Aus diesem Grund sollte es beispielsweise im Strafprozess keine Videoverhandlungen geben, so auch BRAK-Stellungnahme Nr. 60/2021, S. 5.

Es gibt aber auch heute schon „digitale“ Beweismittel, die sich für eine Online-Verhandlung gut eignen wie z. B. gescannte Dokumente, Bilder, Videos, vgl. dazu zuletzt „Überlegungen des BMJ zur Ausgestaltung eines zivilgerichtlichen Online-Verfahrens vom 25.02.2022, S. 24. 

6 DAV-Stellungnahme 57/2020, S 13.

Zum Wettbewerbsrecht Fries/Podszun/Windau, RDi 2020, 49.

BRAK-Stellungnahme Nr. 60/2021, S. 5.

Steht laut einer aktuellen Leser-Umfrage des ZPO-Blogs bei den Reformvorschlägen im Zivilprozess an erster Stelle, vgl. https://anwaltsblatt.anwaltverein.de/de/zpoblog/reformbedarf-zivilprozess-umfrage-ergebnisse

10 Siehe dazu bereits den Antrag der FDP-Fraktion vom 12.05.2020 „Auswirkungen des Coronavirus auf die Justiz – Virtuelle Gerichtsverhandlungen ermöglichen“, BT-Drs. 19/19120; ebenso: Windau, https://anwaltsblatt.anwaltverein.de/de/zpoblog/vor-der-videoverhandlung-steht-ein-tuerhueter

11 Köbler, NJW 2021, 1072.

12 Dazu Windau NJW 2020, 2753, 2755.

13 Die Vorschrift stellt insoweit keine Anforderungen, vgl. Windau, NJW 2020, 2753, 2754.

14 Siehe Diskussionspapier der AG „Modernisierung des Zivilprozesses“, S. 45ff.; abrufbar unter https://www.justiz.bayern.de/media/images/behoerden-und-gerichte/oberlandesgerichte/nuernberg/diskussionspapier_ag_modernisierung.pdf

15 Kommt nach einer Befragung des DAV gelegentlich vor, siehe DAV-Stellungnahme 48/2021, S. 12; siehe zur „technisch bedingten Säumnis auch Windau, https://anwaltsblatt.anwaltverein.de/de/anwaeltinnen-anwaelte/anwaltspraxis/gerichtsverhandlung-per-videokonferenz-keine-angst-vor-128a-zpo.  

16 Siehe dazu Vorschlag der AG „Modernisierung des Zivilprozesses“, S. 47; abrufbar unter https://www.justiz.bayern.de/media/images/behoerden-und-gerichte/oberlandesgerichte/nuernberg/diskussionspapier_ag_modernisierung.pdf

 

 

Bildquelle: geralt/Pixabay