Unter dem Titel „Mehr Fortschritt wagen“ hat die aktuelle Regierungskoalition ihre politischen Vorstellungen und Ziele für die nächsten vier Jahre zusammengefasst. Aus der Vielzahl der für die Anwaltschaft und Justiz relevanten Vorhaben greifen wir einige wenige exemplarisch heraus, wobei eine vertiefte Befassung mit den einzelnen Themen den hier vorgesehenen Raum und Rahmen sprengen würde und deshalb nicht erfolgt.
Eines der sich durchziehenden Kernthemen des 177-seitigen Koalitionsvertrages ist die Digitalisierung. So kommt die Formulierung „digital“ als einzelner Begriff oder in Wortkombinationen insgesamt allein 226 mal vor. Inhaltlich werden dabei z. B. Vorhaben wie die Digitalisierung des Gesellschaftsrechts etwa durch die erleichterte Gründung von Gesellschaften durch Beurkundungen per Videokommunikation oder die vereinfachte gerichtliche Durchsetzung von Kleinforderungen in digitalen Verfahren genannt. Die Regierung plant auch die Schaffung eines digitalen und transparenten Gesetzgebungsportals mit mehr Bürgerbeteiligung, die Schaffung rechtlicher Rahmenbedingungen für elektronische Verfahren zur Anzeigenerstattung und ein Gesetz gegen digitale Gewalt.
Insgesamt ist beabsichtigt, Gerichtsverfahren schneller und effizienter zu machen. Verhandlungen sollen online durchführbar sein, Beweisaufnahmen audio-visuell dokumentiert und mehr spezialisierte Spruchkörper eingesetzt werden. Gerichtsentscheidungen der Strafgerichte sollen grundsätzlich in anonymisierter Form in einer Datenbank öffentlich und maschinenlesbar verfügbar sein. Auch die Verwaltung soll digitaler werden und dort mögliche Lösungen für Abläufe durch Automation sollen prioritär umgesetzt werden. Dazu sollen nicht zuletzt die personellen und technischen Kapazitäten bei Behörden und Gerichten erhöht werden.
Für das Familienrecht steht eine grundlegende Reform und Modernisierung auf der Tagesordnung bei der u. a. das Institut der Verantwortungsgemeinschaft neu eingeführt werden soll. In familiengerichtlichen Verfahren sollen der Kinderschutz und das Prinzip der Mündlichkeit der Verhandlungen gestärkt und die Hürden für die Nichtzulassungsbeschwerde gesenkt werden. Insgesamt wird eine kindgerechte Justiz und Verwaltung, die Kindern Gehör schenkt, angestrebt.
Zahlreiche weitere Vorhaben sind vorgesehen: vom Ausbau des kollektiven Rechtsschutzes und der Schaffung englischsprachiger Spezialkammern für internationale Handels- und Wirtschaftsstreitigkeiten über die Verlängerung von Mieterschutzregelungen, die Überarbeitung der Vorschriften für Unternehmenssanktionen bei Verstößen gegen Compliance-Pflichten und der Optimierung der Strukturen bei der Geldwäschebekämpfung bis hin zur Schaffung eines in sich stimmigen, widerspruchsfreien Einwanderungsrechts, das idealerweise in einem Einwanderungs- und Aufenthaltsgesetzbuch zusammengefasst werden soll.
Das Strafrecht soll systematisch auf Handhabbarkeit, Berechtigung und Wertungswidersprüche überprüft werden, wobei historisch überholte Straftatbestände, eine Modernisierung des Strafrechts und die schnelle Entlastung der Justiz besonders im Mittelpunkt stehen sollen. Ebenso soll das Sanktionensystem einschließlich Ersatzfreiheitsstrafen, Maßregelvollzug und Bewährungsauflagen überarbeitet werden.
Für Legal Tech-Unternehmen will die Regierung den Rechtsrahmen erweitern und klare Qualitäts- und Transparenzanforderungen festlegen. Die Rechtsanwaltschaft soll nach dem Koalitionsvertrag gestärkt werden, indem das Verbot von Erfolgshonoraren modifiziert wird und das Fremdbesitzverbot geprüft werden soll. Ob die Anwaltschaft das genauso sieht, muss intensiv diskutiert werden.
Was sich im Einzelnen konkret hinter den programmatischen Festlegungen und Grundaussagen des Koalitionsvertrages verbirgt, ist heute noch nicht vollumfänglich abzusehen. Vor dem Inkrafttreten aller gesetzlicher Änderungen liegt jeweils noch ein umfangreiches parlamentarisches und politisches Verfahren.
Wie und in welcher Reihenfolge die konkrete Umsetzung der geplanten Vorhaben angesichts neuer politischer, gesellschaftlicher und rechtlicher Herausforderungen durch den Ukraine-Krieg und seine Folgen gestaltet wird, bleibt abzuwarten. Vorausschauend ist im Koalitionsvertrag dazu jedenfalls schon formuliert, dass die strategische Souveränität Europas erhöht werden soll. Ein Prozess, der gerade erst begonnen hat.