Für die Festschrift zum 125-jährigen Bestehen der RAK München, die 2004 erschien, schrieb Dr. Gerhard Hettinger den Artikel „Vom Standesrecht zum Berufsrecht“ (S. 43-63).
In den Mitteilungen 02/2012 erweiterte er diesen Artikel um „25 Jahre Bastille-Beschlüsse“ (S. 14-15), dem nun diese weitere Betrachtung folgt.
Zu meinem Aufsatz „Vom Standesrecht zum Berufsrecht“ in der Festschrift der Kammer zum 125-jährigen Bestehen der RAK ist weiter zu ergänzen:
Das Recht wird bei uns nicht mehr „gefunden“, sondern „gesetzt“ durch den Gesetzgeber. Damit war der frühere § 177 II Nr. 2 BRAO ein Fossil aus alten Zeiten. Er bestimmte, dass es der Bundesrechtsanwaltskammer oblag, die Regeln der Ausübung des RA-Berufes „festzustellen“. Es ging also um gewachsenes Berufsrecht, das aus der alten Tradition gefunden werden musste.
Diese Bestimmung war im geltenden deutschen Recht einmalig. Jedenfalls ist mir keine gleichartige Regelung anderweitig bekannt. Das hatte seinen geschichtlichen Grund: Soweit wir das Entstehen des Rechts zurückverfolgen können (bis Bagdad in Mesopotamien und dem alten Ägypten) war zunächst alles Recht „gewachsen“ und musste im konkreten Fall festgestellt werden.
Erst allmählich wurde es durch „gesetztes“ Recht ergänzt und erst viel später ganz oder teilweise verdrängt (hierzu und im Folgenden: Uwe Wesel, Geschichte des Rechts, 3. Auflage 2006 S. 366ff, 453/456; 607 ff). So entwickelte sich das Recht ursprünglich organisch wie die Sprache. Dieser Entwicklung setzte die französische Revolution 1789 ein jähes Ende. Es keimte das Bewusstsein, dass Eingriffe in die Freiheit des Einzelnen nur durch Gesetze ermöglicht werden dürfen, also durch Bestimmungen, die das Volk selbst oder seine gewählten Vertreter festgesetzt haben.
So entsprachen solche Eingriffe dem Mehrheitswillen des Volkes. Diese Vorstellungen konnten 1789 aber nicht 1:1 auf deutsche Verhältnisse übertragen werden. In Deutschland herrschte ja die Vielstaaterei. In den vielen kleinen Staaten waren Gesetze in aller Regel von den reformunwilligen Fürsten geprägt, also u. U. rein willkürlich und das auch noch in unterschiedlicher Weise in den einzelnen Staaten.
Deshalb forderte schon Anton Friedrich Justus Thibaut, Heidelberger Professor für römisches Recht im Jahre 1814, die deutschen Fürsten sollten ein gemeinsames Gesetzbuch für ganz Deutschland, also für alle Einzelstaaten schaffen („Ueber die Nothwendigkeit eines allgemeinen bürgerlichen Rechts für Deutschland“). Das ging aber nicht von heute auf morgen.
Das Recht war in Deutschland ja in Jahrhunderten gewachsen, wenn auch vielfach fußend auf dem alten römischen Recht. Und so hatte auch das Berufsrecht der Rechtsanwälte und ihrer Rechtsvorgänger (z. B. Advokaten) die Zeiten überlebt.
Bis 1987 fand das auch die Zustimmung des Bundesverfassungsgerichts. Mit seiner Entscheidung vom 14.07.1987 änderte das Gericht aber seine Auffassung. Es entschied, dass der alte § 177 II Nr. 2 BRAO verfassungswidrig und damit ungültig sei. Die Bestimmung hatte legalisiert, was sich in den Jahrhunderten (auch seit 1789 und bei den unterschiedlichen Ausgestaltungen des Berufes) entwickelt hatte und nun gang und gäbe war ohne Rücksicht darauf, ob es dem Mehrheitswillen des Volkes entsprach.
Freilich ist auch mit der explosiv gewachsenen Bevölkerung, ihrer Industrialisierung und den Kommunikationsmöglichkeiten die Vorstellung, dass die Gesetze der Mehrheitsmeinung des Volkes entsprächen, immer mehr zur Illusion geworden.
Aber: Es gilt nur gesetztes Recht. Das Herkommen spielt allenfalls bei der Auslegung einer Bestimmung eine Rolle. Das Grundrecht der Berufsfreiheit des Art. 12 GG darf aber auch bei der Auslegung aus gewachsenen Überzeugungen nicht gesetzeswidrig eingeschränkt werden.
Die Entscheidung vom 14.07.1987 verdient auch heute noch volle Anerkennung, wenn auch nicht verkannt werden sollte, dass schon zuvor die Bundesrechtsanwaltskammer dem Geist der Zeit Rechnung getragen hatte, so dass die Verfassungsgerichtsentscheidung weitgehend – ausgenommen die Werbung – eine Formalie blieb.